Nora Roberts
sich ihre Blicke trafen. Er sah
Vertrauen und ein stummes Flehen. »Lass es einfach zu, dass ich mich um dich
kümmere«, hörte er sich sagen. »Ich möchte mich um dich kümmern.« Er merkte
gar nicht, dass er sich bewegte, bis seine Lippen die ihren berührten. Ihre
Verletzlichkeit brachte seine Mauer zum Einsturz. Unheil von ihr abzuwenden und
jede Art von Verletzung, schien sein einziges Ziel zu sein. »Denk an mich«,
murmelte er, unbewusst die Gedanken aussprechend, die ihm im Kopf
herumwirbelten. »Denk einfach nur an mich.« Slade zog sie näher an sich heran
und veränderte seine Haltung, um sie noch zärtlicher zu küssen. »Sag mir, dass
du mich begehrst. Sprich es laut aus, ich will es hören.«
»Ja, ich
will dich.« Atemlos und ohne jeden Widerstand erlaubte sie ihm zu geben und zu
nehmen, während sie völlig passiv
blieb. Im Augenblick besaß Jessica nicht die Kraft, ihm etwas anderes als
Hingabe anzubieten, doch das genügte beiden. In seinen Armen gelang es ihr
beinahe, den Albtraum zu vergessen, und die Realität.
Er nahm
ihre Hände und presste seine Lippen erst in die eine Handfläche, dann in die
andere. Überrascht stellte er fest, dass er sie damit nicht erregte, sondern
sie beruhigte. Slade war kein Mann für geflüsterte Zärtlichkeiten, für banale
romantische Gesten. Als ein Prickeln durch ihren Arm fuhr, wurde Jessica
bewusst, dass ihre Schwäche und ihre Verzweiflung seine schwierige Aufgabe
unmöglich machten. Wahrscheinlich wusste er gar nicht, wie klug es von ihm war,
sie zu bitten, an ihn zu denken. Ihre letzten Kraftreserven mobilisierend,
straffte sie die Schultern und lächelte ihn an. »Betsy kann sehr böse werden,
wenn sie das Essen stundenlang warm halten muss.«
Dankbar
erwiderte er ihr Lächeln. »Hungrig?«
»Ja«, log
sie.
Jessica gelang es, ein wenig zu essen,
obgleich sie das Gefühl hatte, das Essen bliebe ihr im Hals stecken. Und da sie
wusste, dass Slade sie beobachtete, gab sie sich Mühe, so zu tun, als genieße
sie die Mahlzeit. Sie sprach – plapperte – über sämtliche Nichtigkeiten, die ihr
gerade in den Sinn kamen. Es gab zu viele Themen, die geradewegs zu ihrem
Laden, zu David und Michael führen konnten. Zu dem Mann in dem Wäldchen.
Jessica merkte, dass sie geradezu gegen den Drang ankämpfen musste, nicht aus
dem Fenster zu sehen. Dort hinauszusehen würde sie nur daran erinnern, dass
sie eine Gefangene in ihrem eigenen Haus war.
»Erzähl mir
von deiner Familie«, bat sie Slade, verzweifelt um ein unverfängliches Thema
bemüht.
Slade hielt
es für klüger, sie gewähren zu lassen anstatt darauf zu bestehen, dass sie
richtig aß oder sich ausruhte. Er reichte ihr die Sahne für den Kaffee, den sie
kalt hatte werden lassen. »Meine Mutter ist eine sehr stille Frau – sie redet
nur, wenn sie etwas zu sagen hat. Sie liebt kleine Dinge wie die Figur, die
ich in deinem Laden gekauft habe, und sammelt Glas tiere. Sie spielt Klavier –
hat letztes Jahr wieder angefangen, Unterricht zu nehmen. Das Einzige, worauf
sie jemals bestanden hat, war, dass Janice und ich Klavierspielen lernen.«
»Und,
spielst du?«
Slade, dem
ihr erstaunter Tonfall nicht entgangen war, warf ihr einen finsteren Blick zu.
»Schlecht«, gab er zu. »Irgendwann hat sie ihre Bemühungen aufgegeben.«
»Und wie
denkt sie über ...«, Jessica zögerte kurz und nahm den Kaffeelöffel von ihrer
Untertasse. »Über deinen Job?«
»Darüber
spricht sie nicht.« Slade sah Jessica zu, wie sie solange in ihrem Kaffee
rührte, bis sich ein kleiner Strudel in der Tasse gebildet hatte. »Ich glaube,
es ist nicht einfacher, die Mutter eines Cops zu sein, als die Frau. Aber sie
kommt damit zurecht. Sie kam immer damit zurecht.«
Mit einem
andächtigen Nicken schob Jessica die unberührte Kaffeetasse beiseite. »Und
deine Schwester, Janice ... du hast gesagt, sie besucht das College.«
»Sie möchte
Chemikerin werden«, sagte Slade mit einem geheimnisvollen Lachen. »Davon träumt
sie schon seit ihrer ersten Chemiestunde in der Highschool. Du solltest mal sehen,
mit welcher Begeisterung sie all diese Pülverchen und Flüssigkeiten
zusammenmischt. Dieses ellenlange, dürre Geschöpf mit den sanften Augen und
wunderschönen Händen – ganz das Gegenteil von diesen verrückten
Wissenschaftlern. Mit sechzehn hat sie unser Badezimmer in die Luft gejagt.«
Jessica
lachte – das erste natürliche Lachen in den letzten vierundzwanzig Stunden.
»Hat sie das wirklich?«
»Es war
eine mittlere
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