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Nordmord

Titel: Nordmord Kostenlos Bücher Online Lesen
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hatten vorher nicht darüber gesprochen, mit keiner Silbe hatte sie jemals
erwähnt, dass sie sich auch nur im Traum vorstellen konnte, ihre schönen langen
Haare abzuschneiden. Wahrscheinlich war es aus Frust über die verpatzte
Biochemieklausur. Am selben Tag habe ich mich von meinem ersten festen Freund
getrennt. Er war meine große Liebe. Aus Trotz oder Frust oder was auch immer
mich dazu bewogen hat, bin ich an dem Nachmittag zum Friseur gegangen und habe
mir ebenfalls die Haare kurz schneiden lassen. Als ich Heike am Abend traf,
sind wir uns um den Hals gefallen und haben Tränen gelacht.«
    Sie blickte zu Heikes Mutter, die tapfer lächelte.
    »Das heißt aber nicht, dass wir immer einer Meinung waren«,
fuhr sie fort.
    »Heike hat mich oft zum Nachdenken gebracht, versuchte, mir
zu erklären, wie die Dinge vielleicht aus einer anderen Perspektive aussehen,
dass nicht alles tatsächlich so ist, wie es auf den ersten Blick scheint. Heike
war eine fantastische ›Kulissenguckerin‹. Dieses Wort benutze sie oft, um sich
selbst zu beschreiben. Und wenn sie heute hier die Möglichkeit hätte, zu uns zu
sprechen, dann würde sie sagen: »Kinder, warum seid ihr traurig? Nur weil ihr
mich nicht mehr seht, heißt das doch nicht, dass es mich nicht mehr gibt. In
euren Köpfen bin ich stets da, schleiche mich in eure Gedanken, zaubere euch
wunderschöne Erinnerungen.«
    Marlene kämpfte mit den Tränen, ihre Stimme zitterte. Mit der
Hand klopfte sie sich an ihre Brust.
    »Und hier, hier in euren Herzen, das weiß ich, wird sie immer
einen Platz haben.«
    Die Absätze ihrer Schuhe klickten laut auf dem Steinfußboden
und hallten in ihrem Kopf wider. Auf wackligen Beinen ging sie zurück zu ihrem
Platz. Tom griff sofort nach ihrer Hand.
    Musik ertönte. ›Knockin’ on heaven’s door‹ von den Guns N’
Roses. Heikes Lieblingslied. Sie hatte lange darüber nachgedacht, ob man es auf
einer Beerdigung spielen konnte. Letztendlich hatte sie aber alle Bedenken über
Bord geworfen und nur auf das Gefühl gehört, welches ihr sagte, dass Heike sich
darüber diebisch gefreut hätte. Zum einen, weil sie genau gewusst hätte, dass
ihre Tanten darüber empört sein würden. Zum anderen natürlich, weil es nun mal
einfach ihr absolutes Lieblingslied gewesen war.
    Die letzten Töne verklangen, die Männer vom
Bestattungsinstitut traten neben den Sarg und trugen ihn nach draußen. Die
Trauergäste erhoben sich, langsam setzte sich der Zug in Bewegung.
    Sie hatte eine Grabstätte ganz in der Nähe der Kapelle
gewählt. Nach kurzer Zeit hatten die Gäste sich dort versammelt. Der Sarg wurde
in die ausgehobene Grube hinabgelassen. Der Anblick, gepaart mit der
Gewissheit, dass Heike in diesem Holzkasten lag, war kaum zu ertragen. Sie
schluchzte.
    Der freikirchliche Pfarrer sprach ein paar Worte, danach trat
die Mutter gestützt von der zweiten Tochter an das Grab. Mit zitternden Händen
warf sie eine weiße Lilie in das dunkle Loch. Marlene wendete ihren Blick ab,
dabei fiel ihr ein Mann auf, der etwas abseits hinter den anderen Trauergästen
stand. Sie hatte ihn nie zuvor gesehen, aber er zog von einer Minute auf die
andere ihre ganze Aufmerksamkeit auf sich. Er war circa Anfang 50, klein und
trug einen hellen Trenchcoat. Er schien sehr ergriffen, denn er wischte sich
mit einem Taschentuch ständig über sein Gesicht. Sie beugte sich ein Stück zur
Seite, um ihn noch besser sehen zu können. Tom wunderte sich und folgte ihrem
Blick.
    »Kennst du den Mann?«
    Sie schüttelte den Kopf.
    Nachdem sie ans Grab getreten und Heikes Mutter kondoliert
hatten, suchten ihre Augen nach dem Unbekannten. Doch sie konnte ihn nirgends
mehr entdecken. Er schien plötzlich verschwunden zu sein.

     
    Dirk Thamsen war bereits einige Zeit vor Malte
Nielsens offiziellem Dienstbeginn im Krankenhaus in Husum. Im Schwesternzimmer
hatte er sich heimlich umgeschaut und den vollen Aschenbecher geleert. Nun
stand er am Ende des Ganges am Fenster und wartete auf den Pfleger.
    Dieser kam zu spät zur Arbeit. Seine Kollegin beschwerte sich
lautstark bei ihm, doch Malte zuckte nur mit den Schultern. Ihm schien es
völlig egal zu sein. Als der Kommissar das Zimmer betrat, saß er am Tisch und
rauchte.
    »Guten Tag, Herr Nielsen.«
    Der Pfleger schaute überrascht auf. Eilig drückte er die
Zigarette aus und stand auf.
    »Oh, wollten Sie zu mir? Weil mein Dienst beginnt gerade. Ich
muss dringend meine Kollegin

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