Nordwind: Kriminalroman (German Edition)
entfernt konnte sie über den Kiefern die Dächer von Kalbjerga erkennen. Ann-Katrin und Bengt waren ihre einzigen Nachbarn. Sonst gab es nichts und niemanden. Nur Wald, magere Wiesen und blökende Schafe. Wenn die Sonne unterging, waren sie in der Dunkelheit allein.
Seit Maria ihr Kommen angekündigt hatte, war diese Vorstellung leichter zu ertragen.
Alles, was Malin durch den Kopf ging, kam zumindest so weit zur Ruhe, dass sie nachdenken konnte. Maria und sie hatten sich immer nahegestanden. Anfangs hatte sich vor allem Malin um die kleine Schwester gekümmert. Doch mit der Zeit verloren die drei Jahre Altersunterschied immer mehr an Bedeutung. Nicht einmal mit fünfzehn, als Malin ein kleines Mädchen an ihrem Rockzipfel eigentlich peinlich hätte finden müssen, hatte sie ihre Schwester zurückgewiesen. So war Maria zwar etwas frühreif, aber auch selbstsicher geworden. An diese Selbstsicherheit konnte Malin sich anlehnen, wenn es nötig war.
Maria war die Einzige, die auf Malins Seite gewesen war, als die das Medizinstudium abbrach, um ein Café zu eröffnen. Hartnäckig hatte sie ihre Mutter und ihren großen Bruder Staffan angekeift, die beide Malins Entschluss für idiotisch hielten. Sich gegen den Arztberuf zu entscheiden! Wie dämlich! So ganz hatte sich Malin von diesen Auseinandersetzungen nie erholt. »Ihr seid doch oberflächlich und bürgerlich«, so hatte Maria bei den sonntäglichen Abendessen geschimpft.
Maria würde morgen mit der 11-Uhr-Fähre kommen und noch vor vier Uhr nachmittags auf Fårö sein. Malin zählte bereits die Minuten. Sie freute sich unheimlich darauf, jemanden bei sich zu haben, der sie hundertprozentig verstand und ihr ein Gefühl von Geborgenheit gab.
Immer wieder musste sie an Stina Hansson denken. Als ob nicht alles schon schlimm genug wäre, hatte die Frau, die Ellen in ihrem Auto mitgenommen hatte, eventuell eine Verbindung zu Henrik. Sie war mit ihm zusammen gewesen. Das war zwar vor fünfzehn Jahren gewesen, aber nur drei Jahre bevor er sie kennengelernt hatte. Malin konnte es kaum glauben. Dass er mit dieser Frau geschlafen hatte. Ihr ins Ohr geflüstert hatte, dass er sie liebe. Vielleicht hatte er das ja auch gar nicht getan. Sie hoffte es.
Als Henrik von ihr erzählt hatte, war es ihr plötzlich so vorgekommen, als wäre sie bei ihnen eingezogen. Warum hatte er nicht erzählt, dass er sie getroffen hatte? Das machte man doch. Hätte sie selbst es getan? Sie glaubte es zumindest.
Maria hatte all diese Gedanken abgetan. Wieso hätte er eine ehemalige Freundin aus seiner frühen Studienzeit erwähnen sollen? He, komm runter!
Malin hatte Stina Hansson gegoogelt. Sie wollte wissen, wie sie aussah. Aber sie war nirgendwo zu finden. Keine Facebookseite, kein Sportverein, nichts. Die schmale Gestalt mit dem hellen langen Haar, die in Jeans und grüner Jacke vor der Schule stand und sie anglotzte, hatte sich in ihr Gedächtnis gebrannt. Doch das Bild war unvollständig. Die stechenden kalten Augen starrten sie noch immer aus einem Gesicht an, das nur aus einer hellen Fläche bestand.
Henrik musste Fotos von ihr besitzen. Zweifelsohne. Aber Malin mochte ihn nicht fragen. Sie war sich nicht sicher, ob sie sehen wollte, wie Stina Hansson den Mann hinter der Kamera liebevoll anlächelte.
31
Simon fluchte über einen Misserfolg beim Spiel und brüllte via Skype irgendeinen Klassenkameraden an, der sich zu Hause vor dem Computer am D-Day beteiligte. Oder war es die Ardennenoffensive? Fredrik hatte gelernt, die Laute zu deuten, die durch die geschlossene Kinderzimmertür drangen. Er hatte auch begriffen, dass Simon klammheimlich gelernt hatte, den Router so einzustellen, dass sein Computer Vorrang hatte. Um gleichzeitig online zu spielen und zu skypen, brauchte er das gesamte Datenvolumen für sich allein. Die PCs von Fredrik und Ninni konnten sich die Nägel abkauen, wenn sie ins Netz wollten.
Er klopfte an und hörte zwischen den sehr viel inbrünstigeren Schreien ein leises Ja heraus.
Simon warf einen hastigen Blick über die Schulter.
»Wie geht’s?«
»Gut, und dir?«, nuschelte Simon.
»Mir geht es gut«, sagte Fredrik. »Wie läuft es in der Schule? Habt ihr schon richtig angefangen?«
»Ja.«
Simon warf eine Handgranate, griff zu einer anderen Waffe, kämpfte sich weiter nach vorn und knallte vier Deutsche ab, die sich hinter einem ausgebrannten Panzer versteckten.
»Musst du keine Schularbeiten machen?«
»Wir haben Projektwoche.«
»Und da bekommt
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