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Nuhr, Dieter

Nuhr, Dieter

Titel: Nuhr, Dieter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nuhr auf Sendung
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verteile und nur noch ein Quadratmikrometer Platz bleibt, an
dem das T-Shirt durchkommt, dann spritzt die Soße immer genau da hin, als wäre
da ein Gravitationsfeld.
    Das sind Rituale. Das ganze Leben ist ein Ritual. Man
kommt auf die Welt, brüllt, guckt doof, verpasst die Straßenbahn und stirbt
wieder. Und zwischendurch trifft man noch Menschen, jede Menge Menschen,
Nachbarn zum Beispiel oder Missionare, lauter Menschen, bei denen man denkt:
»Warum darf ich die nicht in einen Kessel tun, drum herum tanzen und warten,
bis sie gar sind?« Kann das irgendjemand beantworten? Vielleicht schreibe ich
mal an »Frau im Spiegel«, die wissen so etwas. Oder auch nicht. Aber antworten
tun sie bestimmt...
     
    Kultur 8. Oktober
2001
    Die Spaßgesellschaft ist vorbei. Das lese ich jetzt
überall. Der große neue Trend ist Ernsthaftigkeit. Das hat ja bei uns Tradition.
Der Deutsche ist in seiner langen, langen Geschichte überwiegend zum Lachen in
den Keller gegangen. Nun hatten wir ein paar Jahre Spaß, und schon kommen alle
und sagen: »Jetzt reicht es aber auch!«
    Comedy ist out. Es geht wieder um ernsthafte Auseinandersetzung
mit dem Leben. Denn man stelle sich vor: Man stirbt - und hat kurz vorher noch
gelacht. Wo kommen wir da hin? Da liegt man in der Grube und hat die
Ernsthaftigkeit der Lage gar nicht erkannt!
    Deswegen gehe ich nicht mehr zu solchen Veranstaltungen,
sondern nur noch zu richtiger Kultur. Heute kann ich mich gar nicht
entscheiden: Gehe ich in ein Konzert mit »Werken estnischer Chormusik von den
Runenliedern der vorchristlichen Schamanenkultur bis zum polyphonen
Reduktionismus der Nachmoderne« oder besuche ich lieber die Ausstellung
»Metadiskurs und Selbstreferenzialität zwischen Renaissance und Surrealismus«?
    Vielleicht gucke ich mir aber doch lieber die Teletubbies
an. Deren radikal-formalen Reduktionismus schätze ich nämlich ganz außerordentlich.
Tinky-winky, Lah-lah, Dipsy, Pooh. In diesen Worten schimmert offensichtlich
das Entsetzen vor der Unvollkommenheit der Systemanalyse im
Poststrukturalismus.
    Das ist Kultur! Vielleicht muss man den Kulturbegriff
sogar noch weiter fassen: Kultur beginnt da, wo Menschen es schaffen, ihre
Befindlichkeit zu verarbeiten, ohne sich auf die Fresse zu hauen. Wenn man sich
die Menschen auf der Straße unter diesem Gesichtspunkt objektiv anguckt, muss
man doch sagen: Eigentlich ist es ein Wunder, dass die sich nicht viel öfter
auf den Schädel hauen ... Das sind ja Gestalten ...
    Der Mensch an sich ist nur ein gehobenes Säugetier und
unterscheidet sich genetisch gar nicht so sehr vom Schwein. Jedes Mal, wenn ich
eine Metzgerei betrete, denke ich, dass das ein reiner evolutionärer Glücksfall
ist, dass ich auf der richtigen Seite der Theke stehe.
     
    Fotos 16.
Oktober 2001
    Ich schaue gerade alte Fotos an - obwohl ich das psychisch
nur schwer verkrafte. Ist denn nicht schon genug Unerfreuliches in der Welt?
Muss ich mich dazu noch selber in einem knallbunt geringelten, hautengen
Pullunder wiederentdecken, bei meiner Oma auf dem Balkon, mit Luftschokolade,
obwohl ich schon aus der Schlaghose platze und aussehe wie Enkel im eigenen
Darm? Die Haare mit Biskin frisch frisiert - eine Mischung aus Bata Ilic und
dem Michelinmännchen.
    Das ist doch deprimierend. Alles, was ein paar Jahre her
ist, sieht immer ein bisschen deprimierend aus. Das wird sich auch nicht
ändern. Da stehe ich heute vor dem Spiegel, bin ganz zufrieden mit mir, cooles
Shirt, Superhose - aber ich weiß jetzt schon: Wenn ich das in zehn Jahren sehe,
dann sage ich wieder: »Oh Gott, sah das Scheiße aus!«
    Bis alles wiederkommt. Meine Klamotten von 1974 laufen
heute komplett wieder durch das Nachtleben. Selbst Pullunder gibt's wieder. Und
da zeigt sich das Grausame an Fotos: Irgendjemand sieht so etwas und denkt:
»Waren die krass drauf früher! Pullover ohne Arme - die hatten ja ständig
verschwitzte Bäuche und kalte Arme, so was will ich auch tragen ...« Man könnte
solche Zeitgenossen solange in Einzelhaft einer Gehirnwäsche unterziehen, bis
sie sich einen Pullunder gar nicht mehr vorstellen können. Aber dafür ist
unsere Demokratie einfach zu lasch!
    Man könnte Fotos auch verbieten - aus religiösen Gründen.
Als Gott sagte: »Du Sollst dir kein Bildnis machen!«, da hatte er
wahrscheinlich sein Fotoalbum von früher vor Augen. Ich und der Urknall, Ich
bei der Schöpfung der Elementarteilchen im Pullunder.
    Nein, das ist Quatsch. Das Universum kann nicht von jemandem
geschaffen

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