Nur dein Leben
seinen Kindern. Sie reagierten auf diesen Ort, genossen einen Tag im Zoo. Sie schienen aus dem seltsamen Universum aufzutauchen, in dem sie bisher gelebt hatten.
Sie gingen zum Eulenhaus. Als sie an den Erdmännchen vorbeikamen, zogen Luke und Phoebe aufgeregt ihre Eltern zu deren Gehege. Sie blieben stehen und sahen sich zusammen die kleinen, knuddeligen Tiere an. Naomi beugte sich dicht zu dem Erklärungsschild und las vor, was daraufstand.
»Während die übrigen Familienmitglieder graben, in der Sonne baden oder spielen, hält ein Erdmännchen stets Wache.« Sie wandte sich an die Kinder. »Seht ihr das, das uns anschaut? Luke, Phoebe? Das hält gerade Wache.«
Luke kicherte. Phoebe kicherte ebenfalls, zeigte auf das Tier und sagte: »Emännchen.«
»Erdmännchen«,
verbesserte sie Naomi.
»Emännchen!«, wiederholte Phoebe.
»Emännchen!«, quietschte Luke.
Sie sahen sich die Eulen an und beobachteten dann lange ein Faultier, das kopfüber an einem Baum hing und schlief.
»Würdest du auch gern so kopfüber hängen können, Luke?«
Phoebe musste wieder kichern, sagte etwas zu Luke, und auch er fing an zu lachen.
Wieder wechselten John und Naomi einen Blick.
Ist das nicht schön? Erstaunlich! Einfach erstaunlich! Vielleicht waren unsere Ängste unbegründet!
Sie gingen wieder hinaus und besuchten die Lamas, dann die Kamele, dann die Bären und schließlich betraten sie das Insektenhaus und blieben vor einem Terrarium mit zwei Taranteln stehen. Luke und Phoebe gingen näher heran, schreckten zurück und klammerten sich beide an Johns Händen fest.
»Die mögt ihr wohl nicht besonders? Na, ich auch nicht.«
»Ich auch nicht«, fügte Naomi schaudernd hinzu.
Sie gingen weiter und hielten vor einer riesigen ostafrikanischen Hornisse inne.
John kniete sich zu Luke und flüsterte ihm zu: »Sag mal, wie findest du die Insekten? Eklige Krabbelviecher, oder? Schau mal, die da – die sind noch größer als das Viech, das du letzten Sommer getötet hast. Weißt du noch?«
Für einen kurzen Moment erhaschte er Lukes Blick, doch sein Sohn schaute weg, als sei ihm die Frage unangenehm.
»Habt ihr Hunger? Möchtet ihr etwas essen? Ein Eis? Möchtet ihr Gold waschen? Im Blubberbad spielen? Karussell fahren?«
»Eis«, verlangte Phoebe.
»Eis«, echote Luke.
Sie kauften beiden eine Rieseneiswaffel mit einem Schokoladenkern in der obersten Kugel. Innerhalb von Minuten waren John und Naomi nur noch damit beschäftigt, ihnen das klebrige Zeug von den Gesichtern zu wischen. John legte einen Arm um Naomi und zog sie fest an sich. Sie erwiderte seine Umarmung. Plötzlich, hier draußen im stürmischen Wind und den Graupelschauern, schwindelte John fast vor Glück. Endlich war sein Leben so nahezu vollkommen, wie es das Leben eines jeden Menschen sein sollte: eine Frau, die er liebte, zwei traumhafte Kinder. Eine Karriere, mit der es steil nach oben ging.
Allein der Anblick von Lukes schokoladenverschmiertem Mund, der noch einmal im Hörnchen verschwand und von Naomi, die Phoebe einen Klecks Eis von der Nase wischte, erfüllte ihn mit einer Freude, von der er nicht geglaubt hatte, dass ein Mensch dazu fähig wäre.
Die Schatten lauerten im Hintergrund. Die Apostel des Dritten Jahrtausends. Der geheimnisvolle Hacker, der die Schachpartie gegen Gus Santiano für ihn gespielt hatte. Seine Sorgen wegen der seltsamen Anrufe aus Amerika, die sowohl er als auch Naomi letzte Woche erhalten hatten.
Doch für den seltenen Augenblick, in dem sie einfach eine normale Familie waren, die einen Ausflug unternahm, schüttelte er die Sorgen von sich ab.
69
AM MONTAGMORGEN ZOG SICH DER APOSTEL WARM AN. Draußen war es kalt; nachts war die Temperatur auf minus fünfzehn Grad gefallen, und auch tagsüber würde sie laut Wettervorhersage höchstens bis auf zwei Grad steigen. Er schulterte den Rucksack und verließ seine Wohnung.
Durch den Schneematsch stiefelte er zur Greyhound-Haltestelle zehn Straßen von seiner Wohnung entfernt und kaufte einen Einzelfahrschein nach New York. Eine der Regeln für die Apostel lautete, niemals einen Rückfahrschein zu kaufen. Falls man dem Feind in die Hände fiel, wollte man ihm so wenige Informationen wie möglich liefern.
Um vier Uhr nachmittags verließ Timon Cort den Bus am Times Square, kaufte einen Stadtplan und machte sich dann zu Fuß auf den Weg den Broadway hinunter. Er ging vorsichtig, Kräfte sparend, so wenig verseuchte Luft einatmend wie möglich, nur das absolute Minimum. Er
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