Nur dein Leben
brauchte keine zehn Minuten, um das Internetcafé zu erreichen, das er tags zuvor auf Google Map gefunden hatte.
Nachdem er sich eingeloggt hatte, eröffnete er zuerst einen neuen Hotmail-Account unter einem falschen Namen und mit falschen Angaben. Er beschloss, einen alt- mit einem neutestamentarischen Namen zu kombinieren und gab
Joël Timotheus
ein. Dann schickte er eine E-Mail an die erste Adresse in einer Kette, die sie um die ganze Welt weiterleiten und ihren Ursprung unter einem Datenwust Dutzender anonymer Server verbergen würde, bevor sie ihren eigentlichen Adressaten erreichte. Die E-Mail lautete:
Wenn ich mich auf den Schwingen der Morgendämmerung erhebe, wenn ich mich am anderen Ende des Ozeans niederlasse, wird mich selbst dort deine Hand geleiten, deine rechte Hand mich festhalten.
Er versandte sie, bezahlte für seine Internetzeit, verließ das Café und verschwand in der Menge. Alle paar Minuten warf er einen Blick über die Schulter. Noch nie zuvor war er nervös gewesen, sondern stets gelassen, in dem Wissen, dass Gott an seiner Seite war, aber vielleicht brachte die Hoffnung, dass dies die letzte Aufgabe sein würde, ihn doch aus dem inneren Gleichgewicht.
Nur noch dies, dann kam Lara.
Nur noch dies.
Es war schon so lange her, dass sie sich gesehen, dass sie sich in den Armen gehalten hatten. Manchmal fiel es ihm selbst mit Gottes Hilfe schwer, sich ihr Gesicht vorzustellen, und dann musste er ihr zerknittertes Foto aus seinem Portemonnaie holen und es sich ansehen, um die Erinnerung aufzufrischen. Dann tat ihm jedes Mal das Herz so weh, dass es kaum auszuhalten war.
Doch nun durfte er nicht zu intensiv an Lara denken, sondern musste sich auf das Hier und Jetzt konzentrieren.
Die vielen Geräusche in seiner Umgebung irritierten ihn. Das Rauschen der Reifen im endlosen Fluss der gelben Taxen, das laute Hupen, das Wummern der Bässe aus den Lautsprechern vor einem Musikladen, der stampfende Rhythmus der Lautsprecher in einem Van mit getönten Scheiben, das Pochen der Herzen rings um ihn, das hektische Klicken und Klappern von Absätzen auf dem Bürgersteig, das Rascheln von Kleidung.
Er hielt sich mit beiden Händen die Ohren zu und bestieg einen Bus. Der Motor heulte auf. Hinter sich hörte er ein konstantes, blechernes
ticker-ticker-ticker-ticker
aus den Kopfhörern eines MP 3 -Players. Er drehte sich um. Traf den harten Blick eines mächtigen Schwarzen, auf dessen Stirn ein Satanskreuz tätowiert war und der Selbstgespräche führte. Er drehte sich wieder nach vorn, schloss die Augen und versuchte, sich von allem abzukapseln und sich nur auf das Schaukeln des Busses zu konzentrieren. Unablässig wiederholte er im Stillen das Gebet des Herrn, bis er sein Ziel erreichte.
Im Central Park ging es ihm besser. Auf einem Spazierweg entfernte er sich von den Gerüchen und Geräuschen der Kloake und dem Mann mit dem Satanskreuz. Diesen Ort nannten sie eine Stadt! Wie konnten sie es wagen? Es gab nur eine Stadt – die Stadt Gottes.
Ihr seid vielmehr hingetreten zu Gott, dem Richter aller, zu den Geistern der schon vollendeten Gerechten, zum Mittler eines neuen Bundes, Jesus, und zum Blut der Besprengung, das mächtiger ruft als das Blut Abels. Hebräer 12 : 22 – 24 .
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DR. SHEILA MICHAELIDES WAR EINE KLEINE, zarte, lebhafte und äußerst selbstsichere Frau Anfang vierzig mit olivfarbenem Teint, einer Brille mit großen, eckigen Gläsern und dicken, glatten schwarzen Haaren. Sie sah schick aus in ihrem engen Pullover über einer cremefarbenen Bluse zur braunen Hose.
Ihre Praxis befand sich im hinteren Teil eines imposanten viktorianischen Hauses aus roten Backsteinen, das man zum Ärztezentrum ausgebaut hatte. Ein französisches Fenster im Sprechzimmer bot Ausblick auf einen gepflegten, ummauerten Garten. Der Raum mit seiner hohen Stuckdecke war großzügig bemessen, jedoch im Kontrast zur Epoche des Gebäudes hell und modern möbliert. Auf einem Pinienschreibtisch standen ein Computer und gerahmte Fotos zweier lachender Kinder, und zwei Polstersofas waren einander gegenüber am niedrigen Pinientisch arrangiert, an dem John, Naomi und die Kinderpsychologin jetzt saßen.
Naomi fragte sich, ob es für Ärzte, die mit Kindern zu tun hatten, Pflicht war, kitschige Kinderfotos aufzustellen.
John erzählte ihr die Geschichte von Luke und Phoebe, natürlich ohne die Rolle Dettores mit einem Wort zu erwähnen. Während Naomi ab und zu bestimmte Einzelheiten ergänzte, berichtete er von dem
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