Nur dein Leben
graue und gelbe Streifen durchzogen den dunklen Himmel. Wie auf einem Film im Entwicklerbad hellte sich das Dunkel immer mehr auf, Schatten nahmen allmählich Gestalt an und hoben sich nach und nach als die vertrauten Gebäude, Bäume und Häuser hervor. Ein neuer Tag brach an. Ihre Kinder waren verschwunden, und ein neuer Tag brach an. Ihre Kinder waren verschwunden, und ein sterbender Mann lag vor ihrer Haustür.
Sie rannte wieder zur Straße und weiter in Richtung Dorf, stolperte durch einen Korridor von Hecken und Bäumen. Die Taschenlampe wurde immer überflüssiger. Die Angst schnürte ihr die Kehle zu. Verzweifelt hoffte sie, Luke und Phoebe zu entdecken, die in ihren Wintermänteln und ihren roten und blauen Gummistiefeln Hand in Hand auf sie zukamen.
Eine weitere Sirene näherte sich. Kurz darauf raste ein Notarztwagen mit Blaulicht um die Ecke. Naomi schwenkte wild die Taschenlampe und der Notarztwagen hielt an. »Dene Barn Farm?«, fragte der Fahrer.
Naomi zeigte keuchend in die entsprechende Richtung. »Da hinten, nur hundert Meter, die erste Abzweigung rechts, bis ans Ende, die Auffahrt rauf. Haben Sie zwei kleine Kinder gesehen? Ich suche meine Kinder!«
Sekunden später stand sie da, die Lungen mit Dieselabgasen gefüllt, und sah blaue Lichtstreifen über den nassglänzenden Asphalt huschen wie aufgeregte Fische, sah den Notarztwagen rechts abbiegen, langsam, ganz langsam, eine Filmszene nach der anderen. In ihre Auffahrt hinein. Zu ihrem Zuhause. Ihrem Heim, ihrer Zuflucht.
Reglos stand sie da, blinzelte Tränen und Regentropfen aus ihren brennenden Augen und atmete noch einmal beißenden Qualm ein. Sie zitterte so heftig, dass ihre Knie aneinanderschlugen. »Luke?«, sagte sie, mit schwacher, elender, resignierender Stimme. »Phoebe?«
Sie starrte den mattgelben Schein der Taschenlampe an; der Strahl erhellte nicht einmal mehr die Straße. Sie schaltete die Lampe aus, schluckte, schlang die Arme um den Oberkörper und versuchte, das Zittern zu unterdrücken. Der Regen wurde heftiger, als stünde sie unter der Dusche, doch sie merkte es gar nicht, während sie sich noch einmal in alle Richtungen wandte, sich noch einmal umblickte, in der Hoffnung, zwei kleine Gesichter würden plötzlich hinter einem Busch, einem Baum oder einer Hecke hervorschauen.
Wo seid ihr?
Verzweifelt versuchte sie, sich zu sammeln. Wer war der Mann? Wer hatte ihn erschossen? Warum? Wie konnte jemand in ihr Haus gelangen? Wie konnte jemand Luke und Phoebe ihre Mäntel und Gummistiefel anziehen und sie mitnehmen? Wer waren diese Leute? Pädophile?
Die Apostel?
War es möglich, dass Luke oder Phoebe den Mann erschossen hatten? Und anschließend weggerannt waren? Waren sie deswegen weggelaufen?
Weggelaufen? Verschleppte – entführt?
Irgendwo in ihrem Inneren, an einem dunklen Ort tief in ihrem Herzen, hegte sie trotz ihrer Bestürzung eine Gewissheit, eine absolute Gewissheit, dass die beiden für immer fort waren.
99
EIN KLEINER GRAUER KLEINBUS hielt neben Naomi, als sie sich zum Haus zurückschleppte, und ein Mann fragte sie mit freundlicher Stimme, ob mit ihr alles in Ordnung sei. Für einen Moment flackerte ihre Hoffnung wieder auf.
»Haben Sie sie?«, fragte sie. »Haben Sie sie gefunden? Haben Sie meine Kinder? Geht es ihnen gut?«
»Ihre Kinder?«
Fassungslos starrte er sie an. »Meine Kinder! Haben Sie sie? Luke und Phoebe?«
Der Mann öffnete die Tür und rutschte beiseite. »Kommen Sie, meine Liebe, springen Sie rein.«
Sie wich zurück. »Wer sind Sie?«
»Kriminalpolizei. Wir führen die Ermittlungen am Tatort durch.«
Sie schüttelte den Kopf. »Nein, ich muss weiter, meine Kinder suchen.«
»Wir helfen Ihnen, sie zu finden. Kommen Sie, steigen Sie ein, Sie holen sich ja den Tod.«
Ein Funkgerät krächzte. Der Fahrer lehnte sich nach vorn und drückte einen Knopf. »Charlie Victor Seven Four, sind soeben am Tatort eingetroffen.«
Der Mann auf dem Beifahrersitz streckte Naomi die Hand hin. Naomi ergriff sie, stieg ein und zog die Tür zu. Heiße Luft aus dem voll aufgedrehten Gebläse grillte ihre Füße und blies ihr ins Gesicht.
Naomi schüttelte den Kopf. Durch die plötzliche Hitze fühlte sie sich schwach und desorientiert. »Bitte, helfen Sie mir, meinen Sohn und meine Tochter zu finden!«
»Wie alt sind die beiden?«
»Drei.«
»Keine Sorge, meine Liebe, wir finden sie schon.«
Der Kleinbus fuhr weiter, und Naomi sah die Hecken vorbeiziehen wie im Traum. Sie sagte: »Als wir
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