Nur dein Leben
aufgewacht sind, waren sie nicht mehr da.«
»Wir finden sie, ganz bestimmt.«
Beim Klang seiner freundlichen Stimme brach sie in Tränen aus.
Der Kleinbus klapperte über das Viehgitter und rollte knirschend auf den Kies. Naomi schluchzte unkontrolliert. Sie sah den Notarztwagen, die Türen geschlossen, die Scheiben sichtgeschützt, daneben den Streifenwagen, der zuerst eingetroffen war und dann noch zwei weitere. Überall wimmelte es von Polizisten. Drei Beamte mit Splitterschutzwesten und Gewehren standen im Garten. Keine Spur von dem angeschossenen Mann; wahrscheinlich lag er im Notarztwagen.
Die Stelle vor dem Hauseingang, wo der Verletzte gelegen hatte, war weiträumig mit Flatterband abgesperrt und wurde von zwei uniformierten Polizisten bewacht. Als der Kleinbus vorfuhr, traf ein weiteres Fahrzeug ein, eine dunkle Volvolimousine mit mehreren Antennen, in der vier uniformierte Polizisten saßen.
»Wo könnten Ihre Kinder denn sein?«, fragte der Mann von der Kripo.
»Ich …« Naomi schüttelte den Kopf, öffnete die Tür und stieg rasch aus. Das war nicht die Realität, nein, ganz unmöglich. Sie murmelte einen Dank und ging auf die geschlossene Haustür zu. Einer der Polizisten hob die Hand und sagte freundlich: »Entschuldigen Sie, Madam, würden Sie bitte den Hintereingang benutzen?«
Naomi ging um das Haus herum. Die Küchentür war abgeschlossen. Sie klopfte an. Eine Polizistin in Uniform öffnete. John, noch immer im Morgenmantel, kam auf sie zu. Das Haar klebte ihm am Kopf, sein Gesicht war aschfahl. Er nahm sie in die Arme.
»Wo warst du denn, Schatz?«
»Hast du sie gefunden?«, schluchzte Naomi. »Hast du sie gefunden?«
»Sie sind hier irgendwo in der Nähe«, antwortete John. »Es kann nicht anders sein.«
Schluchzend schrie sie ihn an: » SIE SIND WEG ! JEMAND HAT SIE MITGENOMMEN ! OH GOTT , JEMAND HAT SIE MITGENOMMEN !«
John und die Polizistin wechselten einen Blick.
»Unsere Kinder sind weg, John – kapierst du das nicht? Soll ich es dir buchstabieren? Soll ich es dir rückwärts buchstabieren und dabei jeden vierten Buchstaben auslassen?«
Zwei Polizisten kamen in die Küche, einer etwa neunzehn Jahre alt, groß, sehr dünn und wohl noch unerfahren. Komisch, warum nimmt er hier drin die Mütze nicht ab, dachte Naomi zusammenhanglos. Sein Kollege war älter, stämmig, mit modischem Dreitagebart und rasierter Glatze. Er hielt seine Mütze in den Händen und lächelte freundlich. »Wir haben alle Zimmer durchsucht, alle Schränke und jeden Winkel auf dem Dachboden. Jetzt nehmen wir uns die Außengebäude vor. Garage und Gewächshaus, richtig? Und der Mülltonnenverschlag? Gibt es noch andere Außengebäude, Sir?«
John, der vor Kälte zitterte, antwortete: »Nein.« Dann sagte er zu Naomi: »Zieh du dir erst mal etwas Trockenes an. Dusch dich warm. Ich kümmere mich solange um alles.«
»Wir müssen raus, weitersuchen«, erwiderte sie. »Vielleicht sind sie runter zum Teich bei der Gribbles-Farm gegangen – stell dir vor, sie sind reingefallen?«
»Zieh dir erst mal etwas Vernünftiges an, dann gehen wir raus und suchen weiter. Wir finden sie schon, sie sind irgendwo in der Nähe.«
Der kräftige Beamte wandte sich an den Jüngeren. »Ich durchsuche jetzt die Außengebäude. Nehmen Sie jeden zu Protokoll, der das Haus betritt.«
Als Naomi gerade hinauf zum Duschen gehen wollte, klopfte jemand energisch an die Tür. John öffnete und erblickte einen hochgewachsenen Mann um die vierzig mit dunklen, welligen Haaren, einem offenen, nassen Regenmantel über einem grauen Anzug, weißem Hemd, schicker Krawatte und glänzenden schwarzen Lederschnürschuhen. Seine Nase war gestaucht und schief, als sei sie mehrfach gebrochen gewesen, was ihm das brutale Aussehen eines ehemaligen Preisboxers verlieh.
»Dr. Klaesson?«
»Ja.«
»Detective Inspector Pelham. Ich leite die Ermittlungen.« Sein Tonfall war höflich, aber kurz angebunden. Er begrüßte John mit einem knappen, kräftigen Händedruck, als wolle er keinesfalls wertvolle Zeit verschwenden. Während er sprach, musterte er John mit seinen aufmerksamen grauen Augen. Dann fügte er ein wenig freundlicher hinzu: »Ich kann mir denken, dass Sie und Ihre Frau etwas aus der Fassung sind.«
»Untertrieben ausgedrückt.«
»Wir werden unser Möglichstes tun, um Ihnen zu helfen, aber ich befürchte, wir müssen das Haus als Tatort eines Kapitalverbrechens komplett versiegeln und Sie und Ihre Frau bitten, alles Notwendige für ein
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