Nur dein Leben
zweimal durch das Dorf fuhr, ganz langsam, als suche der Fahrer etwas. Der Wagen ist ihr aufgefallen, aber leider hat sie sich das Kennzeichen nicht gemerkt. Und jetzt wird es interessant: Ein Zollbeamter am Ärmelkanaltunnel erinnert sich daran, dass um drei Uhr heute Morgen ein roter Mitsubishi-Sportwagen durchgefahren ist. Vorne saßen ein Mann und eine Frau, hinten zwei kleine Kinder, ein Junge und ein Mädchen.«
»Mein Gott!«, sagte John, nahm Naomis Hand und drückte sie fest.
Detective Inspector Pelham zog sein Jackett aus und hängte es über die Rückenlehne seines Stuhls. Sein Hemd hatte feuchte Schweißflecken und klebte an seinem muskulösen Oberkörper. »Die Überwachungskameras registrieren jedes Fahrzeug, das in den Tunnel hineinfährt, und wir lassen die Aufnahmen überprüfen. Wir können uns natürlich irren, aber von Ihrem Haus aus schafft man es nachts in zwei Stunden bis zum Ärmelkanaltunnel. Wir haben Interpol kontaktiert und alle europäischen Polizeibehörden gebeten, an sämtlichen Bahnhöfen und Flughäfen, einschließlich der privaten, nach Kindern Ausschau zu halten, auf die die Beschreibung von Luke und Phoebe passt.«
»Wo … Wo bringt man sie hin, ich meine …«, fragte Naomi.
Ihre Stimme brach. Sie schüttelte den Kopf und sagte unter Tränen: »Nein, oh nein, nein, nein, nein!«
John drückte ihre Hand noch fester. Er sehnte sich verzweifelt danach, sie irgendwie zu trösten, als könnte er damit seine eigenen Ängste besiegen. Doch er fand keine Worte. In seinem Kopf herrschte ein einziges Durcheinander. »Bedeutet das, dass Sie die Suche in der unmittelbaren Umgebung abbrechen?«, fragte Naomi.
»Nein, natürlich suchen wir zunächst weiter. Ein Kollege ist mit einem Foto von Luke und Phoebe unterwegs zum Ärmelkanaltunnel, und erst, nachdem der Zollbeamte sie zweifelsfrei identifiziert hat, werden wir uns hauptsächlich auf die Spurensuche konzentrieren.«
»Wann können wir zurück nach Hause?«
»Sobald die Kollegen von der Spurensicherung mit dem Inneren Ihres Hauses und der unmittelbaren Umgebung fertig sind. Ich kann mir vorstellen, dass es morgen, spätestens übermorgen so weit ist. Kollegin Harrison wird Ihnen helfen, eine Unterkunft zu finden, und sie oder ihre Kollegin werden in den nächsten paar Tagen rund um die Uhr an Ihrer Seite bleiben, um Sie vor der Presse abzuschirmen und Sie zu schützen.«
John nickte niedergeschlagen.
»Ich will nicht in ein Hotel«, sträubte sich Naomi. »Ich will meine Kinder suchen!«
Pelham sah sie verständnisvoll an. »Ich kann Sie gut verstehen, aber ich habe wirklich alle verfügbaren Einsatzkräfte für die Suche mobilisiert. Am meisten helfen Sie uns momentan damit, wenn Sie uns weiterhin alle Fragen beantworten. Wir brauchen Stammbäume von Ihnen, vollständige Listen Ihrer Freunde, Geschäftspartner, Nachbarn.«
John drückte erneut Naomis Hand und diesmal beantwortete sie sein Zeichen.
»Natürlich«, sagte er. »Was immer nötig ist.«
Pelham stand auf. »Soll ich psychologische Hilfe für Sie organisieren?«
»Psychologische Hilfe?«, fragte John.
»Nein!«, erwiderte Naomi vehement. »Ich will keine psychologische Hilfe. Ich will nicht, dass mir irgendeine – blöde, ahnungslose Sozialarbeiterin erzählt, wie ich mit dieser Situation umzugehen habe. Alles, was ich brauche, sind meine Kinder! Dann geht’s mir auch wieder gut. Bitte bringen Sie sie uns zurück! Ich würde alles, alles auf der Welt dafür tun!«
Pelham nickte.
Ärmelkanaltunnel.
Roter Mitsubishi-Sportwagen.
Kinder auf dem Rücksitz, ein Junge und ein Mädchen.
Drei Uhr morgens.
Naomi brauchte keinen weiteren Beweis. Tief im Herzen wusste sie, dass sie es waren.
103
DA ZU DIESER FRÜHEN ABENDSTUNDE ständig Fischerboote an- und ablegten, bemerkte niemand, dass ein Paar weitere Navigationsscheinwerfer an dem uralten maurischen Wachturm am Ende des steinernen Kais vorbeiglitten, der die Hafeneinfahrt von Ouranoupoli kennzeichnete.
Auch viele Pilger und Mönche waren unterwegs. Von der kleinen Stadt an der griechischen Nordküste aus schifften sie sich zu den zwanzig Klöstern auf der Halbinsel Berg Athos ein. Eine Fähre brachte sie über den schmalen Arm des Ägäischen Meeres.
Ouranoupoli war überdies der nächstgelegene Hafen von einem weiteren Kloster aus, das auf einer kleinen Insel zwanzig Kilometer südlich lag.
Die Barkasse fuhr rückwärts an den belebten Kai heran, wartete gerade so lange, dass die einzige Passagierin
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