Nur dein Leben
an Land springen konnte, und legte dann sofort wieder ab.
Lara Gherardi hatte ihre langen schwarzen Haare zu einem Knoten geschlungen und unter einer Baseballkappe verborgen. Sie trug einen weiten Anorak, Jeans und Turnschuhe. Ihre Reiseutensilien befanden sich in einem kleinen Rucksack auf ihrem Rücken. Rasch ging sie an einer Reihe vertäuter Fischerboote vorbei und dann die steile, unbefestigte Straße hinauf, an mehreren vollen Restaurants und Cafés entlang bis zur Hauptstraße des Ortes.
Die See war in Küstennähe ruhiger gewesen, als der Skipper erwartet hatte, deshalb waren sie eine Viertelstunde früher als geplant eingetroffen. Lara betrat eine überfüllte Bar, bestellte ein Glas Wasser und trank es draußen auf dem Bürgersteig. Angewidert starrte sie in ein Schaufenster voller Berg-Athos-Souvenirs. Das Taxi kam.
Lara warf ihren Rucksack auf den Rücksitz und setzte sich daneben. Kurz darauf verließ das Taxi die Stadt in Richtung Flughafen Thessaloniki, zweieinhalb Stunden entfernt. Es war sieben Uhr abends.
Lara nahm den Flug um dreiundzwanzig Uhr nach Athen und schlief dann unruhig auf einer Bank in der Abflughalle.
Um acht Uhr morgens, sieben Uhr englischer Zeit, bestieg sie ein Flugzeug nach London Heathrow.
104
Naomis Tagebuch
Hellwach liege ich im siebten Stock des Thistle Hotels und lausche dem Verkehrslärm unten auf der Straße sowie dem Rauschen des Meeres gleich hinter der Promenadenmauer. Ich kann kein Auge schließen. Die ganze Zeit warte und warte und warte ich auf das Klingeln meines Handys. Zweimal bin ich schon aufgestanden, um zu überprüfen, ob es eingeschaltet ist und der Hörer des Hoteltelefons aufliegt.
Dauernd höre ich ein Telefon in einem anderen Zimmer klingeln. Habe schon in der Lobby angerufen, um sicherzugehen, dass das Nachtpersonal weiß, in welchem Zimmer wir wohnen.
Heute habe ich mir mehrmals gewünscht zu sterben. Dasselbe habe ich empfunden, als klar war, dass Halley seinen Kampf verlieren würde. Ich hätte am liebsten einfach losgelassen und mich mit ihm in den Tod treiben lassen.
Ich frage mich die ganze Zeit, wo L und P sein könnten und was mit ihnen geschehen ist. Ich weiß, ich fand sie schwierig, aber daran denke ich jetzt gar nicht mehr. Ich liebe sie über alles. Ich weiß zwar, dass sie in mancher Hinsicht stark sind, aber sie sind noch immer Kleinkinder, winzig kleine Menschen. John und ich haben Schuld auf uns geladen, wir haben sie – ohne es zu wollen – klüger machen lassen, als gut für sie ist. Oder hat Dettore das getan? Wie auch immer, es spielt keine Rolle. Sie sind klug genug, um mit Erwachsenen zu kommunizieren, aber nicht erfahren genug, um auch die Gefahren zu erkennen. Und so ist es dann passiert.
Dieses Bild, diese Videoaufnahme, auf der die Kinder diesen Fremden in die Arme laufen, macht mir am meisten zu schaffen. Nachdem wir drei Jahre lang für Luke und Phoebe alles getan haben, was wir konnten, sind sie bereitwillig mit Fremden fortgegangen. Das ist das Schlimmste von allem.
Die Polizei untersucht, ob Pädophile sie über das Internet angelockt haben, obwohl sie noch keine Beweise dafür im Computer der Kinder gefunden haben. Sie halten es für möglich, dass der verletzte Mann zu einer rivalisierenden Pädophilengruppe gehört und es zu einer Auseinandersetzung kam.
Wie furchtbar!
Meine Kinder befinden sich in den Händen von Kinderschändern, die versucht haben, einen Mann mit einem Kopfschuss zu ermorden. Und niemand hat die geringste Ahnung, wo sie sein könnten.
105
IRGENDWANN IM LAUFE dieser schlaflosen Nacht hatten sie sich geliebt, oder besser: gebumst, dachte John, denn es war nichts weiter gewesen als ein Akt aus irgendeinem grundlegenden Bedürfnis heraus. Sie hatten sich nicht einmal geküsst. Naomi hatte ihn einfach auf sich gezogen, und sie hatten es getrieben, bis beide gekommen waren. Dann hatte sich jeder wieder auf seine Seite des Bettes gerollt.
Um sieben Uhr morgens zog John seinen Trainingsanzug und seine Laufschuhe an und schlich sich hinunter in die Hotellobby. Als er jedoch durch die Drehtüren hinaus in den trockenen, grauen Morgen trat, schlug ihm ein Blitzlichtgewitter entgegen. Panikartig zog er sich wieder ins Hotel zurück.
Draußen wartete eine ganze Armee von Reportern und Übertragungsfahrzeugen.
Er rannte quer durch das Foyer, folgte Schildern, die zum Ballsaal führten, dann zum Konferenzraum und kurz darauf befand er sich in dem großen, leeren Sitzungssaal.
Am anderen
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