Nur dein Leben
Krankenpfleger, Schwestern, Besucher. Ein älterer Mann in Bademantel und Pantoffeln arbeitete sich mit grimmiger Entschlossenheit zentimeterweise mit seinem Gehgestell voran, ein anderer alter Mann lag auf einem Krankenbett, den zahnlosen Mund geöffnet und verwirrt, als hätte man ihn hier draußen vergessen.
Eine weitere Treppe hinauf. Der nächste Flur. Am Schwesternzimmer vorbei. Durch das Fenster sah Lara fünf Schwestern darin sitzen. Das Chaos der Schichten und das konstante Kommen und Gehen fremder Gesichter waren ihr vertraut, und sie wusste, dass in einem großen Krankenhaus unmöglich jeder jeden kennen konnte – nicht einmal vom Sehen.
Mit achtzehn hatten ihre Eltern sie in die Psychiatrie eines großen Krankenhauses in Chicago einweisen lassen. Ihren Aufenthalt hatte sie größtenteils damit verbracht, durch die Flure zu wandern, mit dem Personal zu plaudern, sich an jeden zu hängen, der bereit war, sich mit ihr zu unterhalten. Sie suchte in dem Riesenkomplex eine vertraute Nische. Sie freundete sich mit dem Küchenpersonal an und gehörte eine Weile in die Küche. Sie freundete sich mit den Wäscherinnen an und gehörte eine Weile in die Wäscherei. Dann schloss sie sich den Schwestern auf einer der Stationen an.
Ihr lieber, guter Meister Harald Gatward hatte ihr gestern die furchtbare Nachricht von ihrem geliebten Apostel überbracht. Der Meister hatte ihr erklärt, dass Gott damit ihre Liebe zu Timon Cort und ihre Liebe zu allen Aposteln prüfen wolle. Nie werde es eine schwerere Prüfung geben als diese. Danach würde sie für immer zu ihnen gehören.
Sie lief weiter, bis sie das Schild NEUROCHIRURGIE direkt über sich las und hielt inne.
Realitätsprüfung.
Sie atmete tief durch und sprach im Stillen ein kurzes Gebet um Kraft und Mut.
Timon war in der Nähe. Er lebte noch, das wusste sie. Vor einer Stunde hatte sie die Stationsschwester angerufen und sich als Journalistin ausgegeben. Die Schwester hatte bestätigt, dass er noch am Leben war, wollte aber keine weiteren Auskünfte geben.
Lara bewegte sich jetzt Schritt für Schritt voran. Immer, wenn jemand vorbeikam, tat sie so, als arrangiere sie die Blumen. Schließlich gelangte sie an eine Kreuzung. Das Schild NEUROCHIRURGIE zeigte nach rechts. Am Ende des Ganges sah sie eine Schwesternstation und eine Art Empfang.
In dem Flur herrschte eine solche hektische Aktivität, dass niemand sie im Geringsten beachtete. Dann erstarrte sie.
Zu ihrer Linken führte ein kurzer Flur zu den Doppeltüren einer anderen Station. Doch davor war rechts noch eine Tür, und davor saß ein uniformierter Polizist auf einem Stuhl, las die Zeitung und sah tödlich gelangweilt aus.
Ihr Herz machte einen Sprung.
Dort drin war Timon!
Sie drehte sich rasch um, bevor der Polizist sie bemerkte, und kehrte ans andere Ende der offenen Station zurück. Sie dachte angestrengt nach und traf dann eine Entscheidung. Entschlossen ging sie zurück zum Treppenhaus und bis ganz hinunter in den Keller.
Das Licht war gedämpft, und sie hörte eine Heizungsanlage bullern. Es roch nach gekochtem Kohl und Heizöl. Über ihrem Kopf führten dicke Rohre entlang. Weiter vorn sah sie Dampf aus einer offenen Tür wallen.
»Hat Ihnen jemand Tee gebracht?«, sprach sie vor sich hin, um einen englischen Akzent bemüht. Sie übte den Satz immer wieder.
Noch ein letztes Mal, dann ließ sie die Blumen fallen und machte sich auf den Weg zur Wäscherei und der Kleiderkammer.
»Hat Ihnen jemand Tee gebracht?«
Die meisten Türen entlang der Flure waren beschriftet, und sie brauchte keine fünf Minuten, bis sie diejenige mit dem Schild
Personalbekleidung
gefunden hatte.
Lara stellte die Tasche ab und trat durch die Tür in einen ausgedehnten Raum, der aus einem früheren Jahrhundert zu stammen schien. Auf einer Seite standen Regale, die von oben bis unten mit allen Arten von Krankenhausbekleidung gefüllt waren. Auf der anderen Seite befand sich ein langer Arbeitstisch, an dem etwa ein Dutzend Männer und Frauen aus aller Herren Länder fleißig Kleider bügelten und falteten. Keiner nahm von ihr Notiz.
Lara ging zu dem Arbeitstisch und sprach eine ältere Chinesin an. »Hallo, ich bin Aushilfsschwester und soll eine Kollegin auf der Entbindungsstation vertreten. Ich soll mir hier meine Arbeitskleidung abholen.«
Die Frau hob die Hände. »Wenn Uniform brauchen, müssen Antrag in Personalabteilung ausfüllen.«
Auf Laras verständnislosen Blick hin zeichnete die Frau mit beiden
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