Nur dein Leben
Apple-Monitor und eine Tastatur. Eine weiße Wandtafel war mit Algorhythmen und einem kaum lesbaren Diagramm vollgekritzelt, das John zur Illustration für einen Studenten gezeichnet hatte.
Ohne erst seine Jacke auszuziehen, setzte er sich an seinen Schreibtisch, nahm seinen Laptop aus der Tasche und lud die Dateien, an denen er am Abend zuvor zu Hause gearbeitet hatte. Dann warf er einen Blick in seinen Terminkalender.
»Scheiße!«, fluchte er laut.
Um sechs hatte er eine Verabredung, die ihm völlig entfallen war. Eine Journalistin von
USA Today
wollte einen Artikel über sein Institut schreiben. Normalerweise hätte Saul Haranchek das übernommen, der Nachfolger von Bruce Katzenberg, aber er war auf Dienstreise und hatte John gebeten, das Interview zu geben. John hatte nicht die geringste Lust dazu, vor allem nicht heute, denn er wollte nur eines: früh nach Hause, zurück zu Naomi.
Er versuchte erneut, Dettore zu erreichen, doch es meldete sich wieder nur der Anrufbeantworter. Dann rief er Naomi in der Produktionsfirma an.
Sie klang bedrückt. »Hast du es noch einmal bei Dettore versucht?«
»Ja, und ich bleibe am Ball.«
»Lass uns doch bitte eine zweite Meinung einholen.«
»Ich möchte vorher mit ihm reden. Ich befürchte, dass ich ein bisschen später nach Hause kommen werde. Ich muss noch ein Interview geben.«
»Kein Problem, ich muss auch noch zu einer Filmvorführung, die ich ganz vergessen hatte. Das kann ich jetzt gebrauchen wie Zahnschmerzen. Vor neun Uhr bin ich auch nicht zu Hause. Was möchtest du heute Abend essen?«
»Hast du Lust, essen zu gehen? Vielleicht zum Mexikaner?«
»Ich weiß nicht, ob ich Mexikanisch schon wieder vertragen kann. Lass uns doch einfach nachher überlegen, wozu wir Lust haben.«
»Du hast recht«, sagte John. »Ich liebe dich.«
»Ich liebe dich auch.«
Schweren Herzens legte er auf und öffnete sein E-Mail-Postfach.
Er suchte die E-Mail-Adresse des Doktors heraus und schrieb ihm eine kurze, schroffe Nachricht. Er begann mit der Diagnose von Dr. Rosengarten und bat um dringenden Rückruf.
Er versandte die E-Mail und trat dann ans Fenster. Trotz des kalten Windes und der Regentropfen waren ziemlich viele Leute draußen. Einige saßen auf Bänken und verzehrten ihr Mittagessen, andere standen in Grüppchen zusammen und unterhielten sich. Der ein oder andere rauchte. Studierende. Keine Kinder mehr, aber auch noch nicht erwachsen. Ihr ganzes Leben lag noch vor ihnen. Ob sie wussten, was ihnen bevorstand?
John betrachtete eine besonders hippe Gruppe in ihren Schlabberhosen und den coolen Frisuren, wie sie lachten und Blödsinn machten, so verdammt sorglos. Keiner von ihren Müttern und Vätern hatte mit ihren Genen herumgepfuscht. Doch wenn sie an der Reihe waren, was würden sie tun?
Ahnten sie, dass sie die letzte Generation waren, bei der man alles dem Zufall überlassen hatte? War ihnen bewusst, dass sie trotz ihrer vermeintlich überragenden Intelligenz bald zu einer genetischem Unterklasse gehören würden? Dass sie die Chance haben würden, ihre eigenen Kinder unendlich viel klüger, stärker und gesünder zu machen, als sie selbst es jemals sein würden?
Wie würden sie sich entscheiden?
Von plötzlicher Angst erfüllt, wandte er sich vom Fenster ab. Vielleicht hatte Rosengarten einen Fehler gemacht, klar, doch wenn er richtig lag? Dann hatte Dettore einen Fehler gemacht. Und wie viele noch?
Zwölfte Woche. Bis zur wievielten Woche konnte man abtreiben? Bis zur sechzehnten? Oder bis zur achtzehnten?
Um halb fünf rief er noch einmal bei Dettore an und hinterließ eine zweite Nachricht, wesentlich deutlicher als die erste. Auch bei Dr. Rosengarten rief er an und hinterließ eine Nachricht bei dessen Sekretärin, dass er ihn dringend sprechen müsse.
Um sechs Uhr hatte er weder eine Antwort von Dettore noch von Rosengarten erhalten. Er rief Naomi im Büro an, erhielt aber die Auskunft, sie befinde sich in einem Meeting. Er sah auf die Armbanduhr. Falls Dettore an Bord seines Schiffes war, herrschte dort atlantische Zeitrechnung, also war es dort drei Stunden später als pazifische Zeit. Neun Uhr abends. Allmählich wurde er wütend, und er wollte gerade noch einmal anrufen, als sein Telefon klingelte. Er riss es von der Station, aber es war nicht der Doktor.
Es war die Reporterin von
USA Today
, eine atemlos klingende junge Frau namens Sally. Sie stecke im Stau auf der 101 und würde in einer Viertelstunde bei ihm sein. Ob der Fotograf
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