Nur dein Leben
zutiefst verstört.
52
»MRS. KLAESSON?«
Die Frau, die in der Tür stand, hielt ein sabberndes Baby im Arm und sah verhärmt und gereizt aus. »Glissom?«, erwiderte sie. Ihr Cleveland-Tonfall klang wie ein Echo.
Sie glich der Frau auf dem Foto, das er sich eingeprägt hatte, nicht im Entferntesten. »Mrs. Naomi Klaesson?«
Sie blickte ihn verständnislos an.
Höflich sagte er: »Ich suche die Familie Klaesson. Sie sind nicht zufällig Mrs. Naomi Klaesson?«
»Naomi Glissom? Nein, die bin ich nicht, Sie sind an der falschen Adresse, Mister. Hier gibt’s keine Naomi Glissom.«
Hinter ihr fuhr ein kleiner Junge mit einem Plastiktraktor durch den Flur. Im Inneren des Hauses plärrte ein Fernseher auf voller Lautstärke. Die Frau war Mitte dreißig, sehr klein und hatte ein rundes Gesicht und schlecht frisierte schwarze Haare.
»Vielleicht bin ich hier falsch. Ich wollte zum South Sterns Drive Nummer tausendfünfhundertsechsundzwanzig.«
»Dann sind Sie hier richtig.«
Die Frau starrte den Mann an. Er war Ende zwanzig, mittelgroß und hager. Sein Gesichtsausdruck war ernst und sein ingwerfarbenes Haar kurz geschoren. Er trug einen blauen Anzug, schwarze Schuhe und einen schwarzen Aktenkoffer. Auf der Straße stand ein kleiner blauer Pkw. Er war wie ein Vertreter gekleidet, aber ihm fehlte das dazugehörige Selbstvertrauen. War er ein Mormone oder ein Zeuge Jehovas?
Er runzelte die Stirn. »Ich komme von der Federal North-West Versicherung. Mrs. Klaesson besitzt einen Toyota, der auf diese Adresse zugelassen ist. Sie hatte einen Unfall mit einem unserer Kunden und hat bisher auf keines unserer Schreiben reagiert.«
»Davon weiß ich nichts.«
Das Baby verzog das Gesicht und atmete dann ein paarmal tief ein. Gleich würde es anfangen zu weinen. Die Frau sah es an und wiegte es. »Glissom?«, wiederholte sie.
Er buchstabierte ihr den Namen. »K-L-A-E-S-S-O-N.«
»Klaesson? Dr. Klaesson!«, sagte sie plötzlich. »Ah, jetzt verstehe ich. Die Leute haben hier wohl vor ein paar Jahren gewohnt. Früher habe ich ab und zu Post für sie bekommen.«
Timon Cort nickte. »Dr. John Klaesson und Naomi Klaesson.«
»Die wohnen hier nicht mehr. Sie sind schon vor langer Zeit weggezogen.«
»Haben Sie eine Ahnung, wohin?«
»Versuchen Sie’s mal bei der Mietagentur. Die Bryant Mulligan Agentur drüben in Roxbury.«
»Die Bryant Mulligan Agentur?«
Das Baby weinte lauter. »Versuchen Sie es dort«, wiederholte sie. »Vielleicht wissen die etwas.«
»Bryant Mulligan?« Er buchstabierte den Namen so, wie sie ihn ausgesprochen hatte.
»Ja, genau.«
»Vielen Dank«, sagte er. »Sie haben mir sehr geholfen.«
Sie schloss die Tür.
Der Apostel kehrte zu seinem Auto zurück, stieg ein, wählte auf seinem Handy die 411 und bat die Vermittlung um die Nummer der Bryant Mulligan Agentur. Er wurde verbunden.
Doch die Agentur besaß keine Nachsendeadresse der Klaessons.
53
ES WAR EIN HERRLICH WARMER SPÄTSOMMERTAG drei Tage nach dem Besuch bei Dr. Talbot. Bald würde das warme Wetter zu Ende gehen.
Naomi stand auf einer Leiter im Obstgarten und pflückte Pflaumen. Durch die Zweige des Baumes beobachtete sie Luke und Phoebe, die wenige Meter entfernt auf dem Rasen spielten. Eben hatten sie zusammen mit John in dem flachen aufblasbaren Planschbecken gespielt, das er für sie aufgebaut hatte. Jetzt hatten sie ihren Barbie-Prinzen und ihre Barbie-Prinzessin sowie praktisch sämtliche Plüschtiere, die sie besaßen, mit herausgebracht, in einem Halbkreis hingesetzt und servierten ihnen Nachmittagstee aus dem Puppengeschirr.
Phoebe war die Mutter und schenkte Tee ein, während Luke die Plastikplätzchen herumreichte. Sie schienen fröhlich miteinander und mit ihren Spielzeugen zu plaudern, was Naomi freute. Normalerweise plapperten sie nur, wenn sie alleine in ihrem Zimmer waren.
Eine Wespe schwirrte ihr ums Gesicht, und sie wedelte sie weg. Dann griff sie nach einem ganzen Büschel wunderbar reifer Victoria-Pflaumen. Seit der Sitzung bei Dr. Talbot war sie unruhig gewesen. Johns Begeisterung darüber, dass der Psychiater die Kinder für hochintelligent hielt, konnte sie nicht teilen. Im Gegenteil: Der Befund bestärkte sie in ihrem Verdacht, dass John und Dr. Dettore hinter ihrem Rücken gemauschelt, ja vielleicht sogar die Zwillinge geplant hatten.
Außerdem machte sie sich zunehmend Sorgen über die ständigen Kommentare von außen, ihre Kinder sähen so viel älter aus, als sie waren.
Mit etwas Glück
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