Nur dein Leben
summend auf ihn zuflog, gegen eine Wand prallte und davonsauste.
Er blinzelte, weil er schon etwas verschwommen sah.
Mist!
Er schaltete die Deckenlampe ein und sofort war es taghell im Zimmer. Augenblicke später flitzte das Insekt dicht über die Kinderbetten hinweg und griff dann wieder ihn an, bevor es zur Decke aufstieg. Es war eine sehr große Wespe, vielleicht eine Königin, oder sogar eine Hornisse.
Mein Gott!
Luke und Phoebe waren beide wach und starrten ihn schweigend an.
»Keine Angst«, sagte er und suchte nach etwas, womit er nach dem Insekt schlagen konnte. Ein Märchenbuch lag neben dem Laufstall, und er hob es auf und hielt nach dem Tier Ausschau, das jetzt verschwunden war. Er suchte die Wände, die Decke und dann die leuchtend gelben Dschungeltiervorhänge ab. Nichts.
Er legte den Zeigefinger auf die Lippen. Mit schleppender Stimme sagte er: »Pschschscht … a-alles okay. Daddy ist da.«
Er wankte unsicher und schwenkte das Buch durch die Luft. Ging einen Schritt auf das Fenster zu. Die Wespe griff an. Er schlug mit dem Buch nach ihr, verfehlte sie aber. Sie prallte von der Wand hinter ihm ab und brummte wieder tief über die Bettchen hinweg.
Plötzlich griff Luke blitzschnell in die Luft. John sah, wie sich sein Zeigefinger und Daumen im Pinzettgriff schlossen. Gleich darauf fiel das Insekt zuckend zu Boden.
Ungläubig starrte John das Tier an. Er ging auf die Knie. Der kopflose Körper einer riesigen Wespe wand sich im Todeskampf. Ihr Stachel fuhr aus und wieder ein, aus und wieder ein.
John stand auf und trat auf sie, einmal, zweimal, bis sie reglos dalag. Dann trat er ans Bett seines Sohnes, immer noch nicht sicher, ob er richtig gesehen hatte. Lukes Augen waren weit aufgerissen, und er hielt den Arm hoch, Daumen und Zeigefinger ausgestreckt, als präsentiere er seinem Vater eine Trophäe.
Auf seinem Daumen war ein winziger schwarzer Fleck und auf dem Zeigefinger ein deutlich erkennbares schwarzes Klümpchen. Es war der Kopf der Wespe, wie John sah, als er sich näher heranlehnte.
Zitternd entfernte er ihn mit dem Fingernagel. Er wusste nicht, was er sagen sollte. »Luke … das war einfach …«
Lukes Gesicht war vollkommen ausdruckslos. Phoebes ebenso. Beide starrten ihn an, als sei er das Objekt ihrer Neugierde.
Er küsste beide und meinte, den Schimmer eines Lächelns zu erkennen. Ob sie allmählich einmal ein bisschen Gefühl zeigten? Als er das Licht ausschaltete und das Zimmer wieder verließ, fragte er sich, ob er sich das Ganze nur eingebildet hatte.
Oder besser – wie er später dachte –: in der Hoffnung, es wäre so gewesen.
55
DRAUSSEN IN DER NACHT, verborgen hinter Büschen, hörte der Apostel Gelächter. Das Licht aus den Fenstern im Erdgeschoss fiel über den Rasen, wurde aber von der Dunkelheit verschluckt, bevor es ihn erreichen konnte.
Doch das Gelächter erreichte ihn, und das Gelächter ärgerte ihn.
Diese Leute hatten nicht das Recht, fröhlich zu sein.
Durch sein kleines Fernglas konnte er sie deutlich erkennen: ein Mann und eine Frau, deren Gesichter er von dem Foto in seiner Tasche kannte, und noch ein Mann und eine Frau, Gäste, die mit einem grauen Jeep Cherokee gekommen waren, der vor dem Haus parkte.
Über das Lachen sagte ich: Wie verblendet!, über die Freude: Was bringt sie schon ein? Kohelet 2 : 2
.
Gekleidet in schwarze Hosen, einen schwarzen Parka und schwarze Schuhe mit Gummisohlen war er für die Leute im Inneren des Hauses unsichtbar. Unter der Oberbekleidung trug er einen Ganzkörperbodystocking, der nur sein Gesicht freiließ und das Risiko minimierte, Haut- und Haarpartikel für die Spurensicherung zu hinterlassen. Inzwischen bereute er, dass er die warmen Sachen darüber angezogen hatte. Er hatte damit gerechnet, dass die Nacht kühl werden würde, stattdessen war es schwülwarm.
In den weiten Taschen des Parkas trug er ein Paar dünne Lederhandschuhe, einen Bund Dietriche, eine Dose Betäubungsgas, eine Gasmaske, eine Dose schnelltrocknenden Dichtschaum, eine Flasche flüssiges Propangas, ein Werkzeugset, ein raffiniert konstruiertes, wie ein Stativ zusammengeklapptes Luftgewehr, ein Nachtsichtfernrohr, eine Taschenlampe und ein Feuerzeug. Und natürlich das Foto der Sünder. Um den Hals hing ihm eine Nachtsichtbrille und am Gürtel war ein kleiner Brennschneider befestigt.
Von seinem Beobachtungsposten aus konnte der Apostel die vier Leute, die an einem Tisch saßen, erkennen. Rings um die Gardinen an einem Fenster im
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