Nur dieser eine Sommer
wenig unsicher ins Zimmer schlurfte, wobei sie sich mit langen, schwieligen Fingern auf die Arbeitsplatte stützte, und umarmte sie. Vor Jahren einmal war Miranda Prescott eine hoch gewachsene Frau gewesen, neben der sowohl Lovie als auch Flo wie Zwerge gewirkt hatten, und zudem hatte sie über eine Stimme verfügt, die durchaus zu ihrer Körpergröße passte. Leider hatten ihr die letzten zehn Jahre übel mitgespielt. Mittlerweile im 90. Lebensjahr, war sie hin und wieder verwirrt und zudem beständig schwächer geworden. An guten Tagen allerdings strahlten ihre blassen Augen Weisheit und Herzensgüte aus. Und gerade heute hatte sie wohl einen dieser guten Tage.
„Ich war schon auf halbem Weg zu Jesus, bin aber noch für ein Weilchen umgekehrt. In Zeiten wie diesen ist man nicht krank. Ich darf doch nicht verpassen, wie die Jungen schlüpfen, oder?“
„Ohne dich wär’s halb so schön bei den Gelegen. Die ersten Jungen müssten sich eigentlich jeden Tag aus der Schale und dem Sand kämpfen.“
„Ich weiß! Ich bin schon total gespannt!“
„Zuerst beobachten wir das Nest an der 6. Avenue. Wenn meine Tabelle stimmt, dürfte es am 6. Juli losgehen. Zweimal die sechs, wenn das kein gutes Omen ist!“
Mirandas Augen funkelten. „Kann man sich nicht drauf verlassen. Gerissene Viecher, die Schildkröten!“
Vom ersten Tag an, seit Miranda Prescott zu ihrer Tochter auf die Insel gezogen war, hatte sie sich mit Hingabe „ihren Babys“ gewidmet. Schildkrötenspuren, das Umbetten von Gelegen und die Bestimmungen des Umweltministeriums waren ihr gleichgültig. Sie interessierte sich nur für die frisch geschlüpften Jungschildkröten. Während der Brutzeit besuchte sie jedes einzelne Nest in ihrem kleinen Strandabschnitt.
„Ich veranstalte ein Picknick zum Unabhängigkeitstag. Du kommst doch, oder?“ fragte Lovie.
„Was machst du?“
Lovie sprach etwas lauter: „Ein Picknick. Am Vierten!“
In Mirandas alten wässrigen Augen spiegelte sich Unverständnis. „Ihr zwei Mädchen wollt doch heute in die Stadt fahren, hab ich gehört!“
Lovie lachte verhalten und verzichtete auf eine Antwort. Dass Miranda sie jedoch noch immer als „Mädchen“ bezeichnete, fand sie höchst amüsant. „Nur ein paar kleinere Besorgungen. Hast du nicht Lust mitzukommen?“
„Ich? Um Gottes willen, nein! Bei der Hitze in die Stadt? Ich setze mich lieber auf die Veranda und gucke mir die Gegend an.“
„Wir wollen zur Bäckerei und ein paar Torten holen. Ich werde dir etwas Süßes mitbringen, und wenn wir zurück sind, dann trinken wir zusammen ein Tässchen Tee. Na, klingt doch gut, oder?“
Miranda lächelte, nickte kaum merklich, drehte sich um und schlurfte davon, wobei sie etwas vor sich hin murmelte, das Lovie nicht verstand. Lovie schaute ihr nach. So alt wie Miranda wirst du nicht werden, schoss es ihr durch den Kopf.
Im nächsten Moment vernahm sie Flos Stimme. Laut und deutlich teilte Flo ihrer Mutter mit, was sie vorhatte, und kam danach schwungvoll ins Zimmer gestürmt. Sie trug einen ziemlich kurzen khakifarbenen Rock und ein rotweißes Hemd, das ihre sonnengebräunte Haut besonders gut zur Geltung brachte.
„Donnerwetter, meine Liebe! Das blaue Kleid steht dir aber gut“, meinte Flo anerkennend. „Bereit für den Besuch bei deiner Bank?“
Lovie presste nervös ihr Handtäschchen an ihr etwas altmodisches Etuikleid. Offenbar war sie wegen des Termins schon ganz aufgeregt. Trotz der Hitze trug sie Nylonstrümpfe, Lackschuhe und einen Pullover, den sie sicherheitshalber mitgenommen hatte, falls es in der Bank zu kühl werden sollte. Schließlich gab es dort eine Klimaanlage.
„Bestens gerüstet“, antwortete Lovie.
Flo zögerte und musterte sie. „Bist du sicher, dass du es tun willst? Die ganzen Jahre hast du nichts in dieser Hinsicht unternommen! Und jetzt muss es ausgerechnet heute sein?“
Lovie nickte, den Blick fest geradeaus gerichtet. „Wenn nicht jetzt – wann dann? Bobby Lee Davis wartet bestimmt schon auf mich und hat außerdem meinen Rechtsanwalt hinzugebeten. Es ist alles arrangiert. Nach Bobbys Aussage wird es ein Kinderspiel sein. Ich brauche nichts weiter zu tun, als ein paar Dokumente zu unterschreiben. Übrigens“, fügte sie mit einem Augenzwinkern hinzu, „wir treffen schon Vorbereitungen für den 4. Juli, den Tag, an dem wir unsere Unabhängigkeit feiern. Das passt doch wie die Faust aufs Auge, oder?“
Allmählich rückt die Zeit heran, in der die jungen Schildkröten
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