Nur ein Katzensprung
seither waren sie befreundet.
Irene hatte Anna beigestanden, als sie ihr Philosophiestudium in Göttingen kurz vor dem Abschluss abgebrochen hatte, nachdem Robert sie abserviert hatte.
Anna war bei Kims Geburt dabei gewesen, weil Irenes Mann Michael, wie immer, auf Montage war. Dieses wunderbare Erlebnis würde sie nie vergessen. Ihre enge Beziehung zu Kim hatte dem Mädchen geholfen, während ihre Eltern sich scheiden ließen. Manchmal dachte Anna, dass sie so etwas wie eine Zweitmutter für Kim war. Sie schüttelte den Kopf. Irgendwie war das nicht richtig. Was würde passieren, wenn Anna eine eigene Familie gründete?
Eine eigene Familie? Darüber brauchte sie sich derzeit keine Gedanken zu machen. Es gab ja noch nicht einmal jemanden, für den sie sich begeisterte oder der sich für sie interessierte. Eigentlich hatte sie auch keine Zeit dafür.
Anna parkte ihren Wagen vor Irenes Reihenhaus ein. Kim hüpfte hinaus und rannte den kurzen Weg zur Haustür. Sie klingelte Sturm.
Irene schien hinter der Tür gewartet zu haben. Sie öffnete sofort, hockte sich hin und schloss Kim in ihre Arme.
„Mama, was ist los?“ Kim keuchte, denn Irene drückte sie so fest, dass das Kind kaum noch Luft bekam.
„Geh schon mal hinein. Ich will noch kurz mit Anna sprechen“, sagte Irene.
Kim schaute zwischen den Frauen hin und her, drückte beide noch einmal und schlitterte dann in den Hausflur.
Irene nahm Annas Hand, zog sie zu sich heran und umarmte sie. Sie schwiegen eine Weile. „Danke schön“, flüsterte Irene schließlich. „Ich wüsste nicht, wie ich ohne dich zurechtkommen sollte.“
Anna knirschte mit den Zähnen. Was sollte sie dazu sagen? „Schon okay. Wir haben die Hausaufgaben gemacht, nur den Aufsatz müsst ihr noch schreiben.“
„Wald, Fuchs, Höhle, Fluss, Baumstamm. Ich erinnere mich. Danke für alles.“
„Was ist mit Leon?“, fragte Anna.
„Wir wissen gar nichts. Sein Büro war verwüstet, und er ist wie vom Erdboden verschluckt.“
„Hast du einen Schlüssel zu seiner Wohnung?“
Irene erstarrte. „Nein! … Ja, im Büro liegt einer, zur Sicherheit, falls er seinen verliert oder vergisst.“
„Hast du nachgesehen?“
„Ich, nein, ich habe überhaupt nicht daran gedacht.“ Sie zuckte verlegen mit den Schultern. „Er hat es nicht gern, wenn jemand in seiner Abwesenheit in seiner Wohnung ist. Deshalb hat er auch keine Putzfrau, sondern kümmert sich selbst um alles.“
„Er hasst es, wolltest du sagen. Ich habe dir schon immer gesagt, dass der Kerl mindestens eine Macke hat.“
„Nicht jetzt, Anna. Ich weiß, dass du ihn nicht leiden kannst, das tut mir leid, aber ich liebe ihn, und ich mache mir Sorgen.“
„Fragt sich nur, ob er dich genauso liebt.“ Anna biss sich auf die Lippen, sie bereute den Satz, bevor sie ihn ganz ausgesprochen hatte. „Tut mir leid.“
Irene schaute zu Boden und sagte heiser: „Das lässt sich wohl erst klären, wenn wir ihn gefunden haben.“
Nach einer Pause bat sie Anna doch noch ins Wohnzimmer. Erleichtert ließ Anna sich in den alten, abgewetzten Sessel sinken, der so bequem war.
Irene drückte ihr einen Becher Kaffee mit Sahne in die Hand. „Im Moment wird mir alles zu viel, und Kim leidet am meisten darunter.“
„Sie ist ein verständiges Kind. Ich glaube nicht, dass sie wirklich leidet.“ ‚Verdammt‘, dachte Anna und biss sich auf die Lippen. Jetzt hatte sie genau das Gegenteil von dem gesagt, was sie ihrer Freundin eigentlich an den Kopf werfen wollte. Sie seufzte.
„Was ist los?“
„Dieser Kelvin, der Junge, der gestern Abend verschwunden ist, ging in Kims Klasse.“
„Wie hat sie es aufgenommen?“
„Ganz gut. Ich glaube nicht, dass sie verstanden hat, was das bedeuten kann.“
„Dieser Polizist, der Leons Büro untersucht hat, ist plötzlich weggelaufen, beinahe mitten im Satz. Dabei schien es um einen Kelvin zu gehen.“
Anna biss sich auf die Unterlippe. Doch sie beschloss, es positiv zu formulieren. „Vielleicht haben sie ihn gefunden.“ So richtig optimistisch war ihr das nicht gelungen. Gefunden konnte alles bedeuten.
Dieses E-Book wurde von der "Verlagsgruppe Weltbild GmbH" generiert. ©2012
Holzminden
Dienstag, 1. November 2011
gegen 8 Uhr
14
Kim fand morgens immer schlecht aus dem Bett, und Irene empfand es als äußerst anstrengend, sie zum Aufstehen zu bewegen. Zu jedem Handgriff musste sie sie antreiben.
Saß Kim erst einmal am Frühstückstisch, ging die Quälerei weiter. Jeder Bissen kostete
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