Nur ein Kuss von dir
hatte, aber es war genau wie in jeder anderen Kirche auch. Ich versuchte, mit den Versunkenen in Kontakt zu kommen, doch ich habe keine Ahnung, ob das erfolgreich war. Nach der Zeit, die ich in der Klinik zugebracht hatte, sah ich jener jungen Frau nicht mehr sehr ähnlich, die wie sie eine Versunkene war. Daher vermute ich, sie haben mich gar nicht erkannt. Und natürlich sehe ich jetzt noch viel weniger so aus wie mit Mitte zwanzig.«
»Ich habe nie gehört, dass jemand von dir gesprochen hat außer als einer Meisterin im Stehlen der Gedanken von Betrunkenen«, sagte ich.
Veronica nickte traurig, und die violette Wolke über ihrem Kopf verdichtete sich.
»Das hatte ich auch angenommen«, stimmte sie zu. »Ich wusste, dass ich mir eine sinnlose Aufgabe gestellt hatte, doch ich wollte einfach zur Stelle sein, nur für den Fall. Und dann bist du aufgetaucht.«
Zum ersten Mal seit etwa zehn Minuten sah sie mich wieder richtig an. »Du bist aufgetaucht, und ich wusste, dass mein Warten einen Sinn gehabt hatte. Ich hätte nur ein bisschen geduldiger sein müssen.«
»Was meinst du damit?«
»Als ich wieder herübergekommen war, als ich mein Leben zurückbekommen hatte, habe ich etwas in Erfahrung gebracht. Nämlich wie die Versunkenen gerettet werden können, wie sie alle befreit werden können.« Sie langte über den Tisch, nahm meine beiden Hände in ihre, und ein breites Lächeln erhellte ihr Gesicht. »Zusammen mit dir und dem Amulett können wir sie alle, jeden Einzelnen von ihnen, von ihrem Leid erlösen.«
Mir blieb beinahe das Herz stehen. Sie wusste, was getan werden musste, wie Callum gerettet werden und zu mir kommen konnte!
Ich schaffte es gerade noch, auf meinem Stuhl sitzen zu bleiben. Und ich konnte es gar nicht fassen, dass ich nicht früher auf den Gedanken gekommen war, dass sie vielleicht helfen konnte.
»Du kannst es auch? Catherine hat behauptet, dass sie es könnte, aber dann hat sie diese Erinnerung verloren. Sie hat gesagt, sie hätte es aufgeschrieben, aber wenn du es weißt, dann muss ich nicht versuchen, sie aufzuspüren!«
»Ich habe damit gewartet, es zu tun. Deshalb wollte ich ja mit dir reden. Es ist an der Zeit, dass die Versunkenen heimkehren.«
»Aber Veronica, das ist ja phantastisch!«, musste ich einfach ausrufen, doch dann senkte ich die Stimme wieder. »Wie geht das? Was muss ich tun? Wann können wir damit anfangen? Catherine würde mir doch eh nichts sagen.«
»Also, es ist eigentlich ziemlich einfach. Wir brauchen nur dich, das Amulett und alle Versunkenen zusammen.«
»Und was dann?«
»Nun«, fing sie an und beugte sich verschwörerisch über den Tisch, »wir bilden alle einen großen Kreis, die Versunkenen, du und ich auch. Wir müssen nebeneinander stehen, und wenn wir zwei uns berühren, kannst du die Energie aus dem Amulett in den Kreis leiten. Zusammen mit uns beiden ergibt das so etwas wie einen elektrischen Kreislauf.«
Einen Moment lang schauten sie und ich auf das Amulett. Seine reichen Farben glitzerten im Licht der Halogenstrahler des Cafés. Ich konnte fast schon seine Fähigkeiten spüren. »Ist das alles, was ich tun muss? Die Energie anschieben? Sonst brauchen wir nichts?«
Veronica nickte begeistert. »Nein. Wir beide haben alles, was wir brauchen. Mein Warten hat ein Ende. Ich kann sie alle befreien.«
Ihre Begeisterung wirkte ansteckend. »Das wäre so unglaublich toll! Es wird zwar viel zu erklären sein, wenn all die Menschen plötzlich im Fluss auftauchen, und wir müssen dafür sorgen, dass genügend Rettungsboote zur Verfügung stehen. Aber ich bin sicher, dass ich das hinkriege!« Meine Gedanken rasten bei diesen neuen und aufregenden Aussichten. In wenigen Tagen könnte Callum hier bei mir sein. Vor Aufregung war ich richtig atemlos, während ich all die verschiedenen organisatorischen Probleme durchdachte, die wir zu lösen hatten. Und plötzlich musste ich lächeln. Ich stellte mir vor, wie ich am Fluss stand, wenn Callum in einem der Rettungsboote ans Ufer gebracht würde, wie wir uns küssten …
Veronicas Stimme unterbrach meine Gedanken. »Alex, ich fürchte, ich habe das nicht besonders gut erklärt.«
»Wieso?«, fragte ich und lächelte immer noch wegen der Bilder in meinem Kopf.
»Als ich gesagt habe, wir würden sie befreien, hab ich gemeint, also …«
»Ja?«
»Sie sollen die Möglichkeit haben, endlich zu sterben«, hauchte sie kaum verständlich. »Unsere Aufgabe besteht darin, sie alle zu töten.«
11.
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