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doch ein Geheimnis erzählen“, platze ich heraus. Subtiler und feinfühliger war es nicht machbar.
Markus sieht sich beklommen um. „Aber doch nicht hier“, flüstert er.
„ Wo denn dann?“, flüstere ich zurück und fühle mich dabei wie eine Geheimagentin.
„ Ich hab‘ mir überlegt“, er zögert einen Moment.
„ Ja, sag schon“, drängele ich.
„ Vielleicht kommst du einfach morgen Nachmittag bei mir zu Hause vorbei? Du weißt, wo ich wohne. Und dann kann ich dir auch direkt zeigen, was ich meine“, fügt er hinzu.
„ Prima“, freue ich mich, obwohl das bedeutet, dass ich heute kein Geheimnis mehr erfahren werde. Aber das macht auch nichts, denn spüre eine bleierne Müdigkeit durch meine Glieder kriechen. Die Anstrengung der letzten Tage steckt mir doch ziemlich in den Knochen, gepaart mit wenig Schlaf, Schmerztabletten, unregelmäßigen Mahlzeiten und dem Prosecco insgesamt eine eher ungünstige Kombination.
Als George von der Toilette kommt, bleibt Markus nur noch kurz sitzen, dann steht er auf und verabschiedet sich. Komisch, das ist fast, als hätte er nur darauf gewartet, mit mir allein ein Treffen für morgen zu vereinbaren…
Auch George scheint müde zu sein und so brechen wir auf und gehen ohne Umwege in unser Hotel zurück.
Während er sich im Bad bettfertig macht, erzählt George mir, was er morgen mit seiner Gruppe machen wird, aber ich kann ihm kaum noch folgen, da mir die Augen zufallen.
Donnerstag
Ich sitze in einem abgedunkelten Raum und halte ein Baby in meinen Armen. Es ist nicht nur ein Baby, sondern mein Baby und ich empfinde eine unfassbare Liebe zu dem kleinen Geschöpf, das mich mit großen Augen ansieht. Meine Tochter ist so wunderschön und sie ist das letzte Geschenk ihres verstorbenen Vaters an mich. Obwohl ihr Gesichtchen noch klein ist und die typischen Kleinkind-Merkmale aufweist – Stupsnase und Kulleraugen – könnte ich schwören, dass sie die Gesichtszüge ihres Vaters hat. Ihr Vater. Meine große und einzige Liebe, die ich für immer verloren habe.
„ Ich werde nicht zulassen, dass sie dich bekommen. Niemand weiß von deiner Existenz. Du wirst ohne mich aufwachsen, aber du wirst immer wissen, dass deine Mutter dich mehr liebte als ihr eigenes Leben. Wenn dein Vater dich doch nur sehen könnte! Er wäre so stolz auf dich!“
Leise flüstere ich die Worte, von denen ich weiß, dass es die letzten sein werden, die ich an mein Kind richten kann. Ich küsse die Kleine auf ihre weichen, flaumigen Haare und packe sie dann sanft in ein Weidenkörbchen. Dazu lege ich einen Brief, der vermutlich mehr Fragen aufwirft als beantwortet. Dennoch ist er besser als nichts.
Im Schutz der Nacht laufe ich in geduckter Haltung, das Körbchen mit dem größten Schatz meines Lebens gut unter dem weiten Mantel verborgen, durch düstere Straßen und scheinbar leblose Viertel. Als ich eine hohe Mauer erreiche, werde ich langsamer. Ich weiß, was ich nun zu tun habe, wird die schwerste Aufgabe für mich sein und das größte Leid über mich bringen. Aber dennoch, es muss sein. An einer unscheinbaren hölzernen Tür stelle ich meinen wertvollsten Besitz ab.
Ich streife meinen Armreif ab und lege ihn zu meiner Tochter ins Körbchen, küsse ein letztes Mal ihr kleines Gesicht, streiche ein letztes Mal über die winzige Gestalt unter den Decken.
„ Mach’s gut, kleine Hildegard“, flüstere ich mit tränenerstickter Stimme.
Dann klopfe ich schnell und eindringlich an die Tür und laufe lautlos zu den Bäumen auf der anderen Straßenseite.
Weinend sehe ich zu, hinter einem dicken Baumstamm in der Dunkelheit verborgen, wie die Tür geöffnet wird. Eine Ordensschwester tritt heraus, sieht das Körbchen und blickt suchend die Straße auf und ab. Ich verkrieche mich noch weiter in den alles verschluckenden Schatten der Bäume, doch das wäre gar nicht nötig. Die Nonne wendet sich dem Körbchen zu, hebt es auf und trägt es – mit einem letzten Blick über die dunkle Straße – ins Kloster.
Meine Kraft ist am Ende, ich breche von Weinkrämpfen geschüttelt auf dem feuchten Boden zusammen.
Nach einer schier endlosen Zeit kann ich mich schluchzend aufsetzen. Ich weiß, dass ich das Richtige getan habe, auch wenn es im Moment unglaublich weh tut. Das Kind wäre bei mir keine Sekunde lang mehr sicher gewesen. Ich konnte seine Existenz nicht länger geheim halten. Und da außer mir niemand von meiner Tochter weiß, wird sie niemand suchen. Sie wird
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