Nuramon
Magie so stark wird wie bei deinem Bruder, reicht es, um Lebewesen zu heilen.«
Daoramu musste schmunzeln. Yendred saß dort mit seinem ein wenig zu kurz geschorenen Haar und faltete die Hände wie ein Gelehrter. In diesem Augenblick wirkte er älter als neun, und die Ähnlichkeit zu Nuramon war trotz der ein wenig dunkleren Augen und des etwas helleren Haars enorm. Auch die Stimme ähnelte der Nuramons, die Aussprache jedoch, der Jasborer Akzent gemischt mit dem Merelbyrer Singsang, glich der ihren.
Langsam schloss Daoramu die Tür wieder. Eigentlich hatte Nerimee ihren jüngeren Bruder weiter an die Magie heranführen sollen, doch da sie gerade krank war, war Yendred die Lehrmeisterin abhandengekommen und Ceren die Schülerin. Offenbar vertraten sie Nerimee in ihren jeweiligen Rollen.
Daoramu ging nun ins Zimmer ihrer Tochter, das weiter vorne auf dem Gang lag. Wie so oft hatte ihre Erstgeborene die schweren Vorhänge zugezogen, die vom Wind, der durch die geöffneten Fenster hereindrang, sanft bewegt wurden. Das einzige Licht kam von einem Kristall und tauchte das Zimmer in einen honigfarbenen Schein. Nerimee liebte Edelsteine und sprach gerne Zauber darauf. Die Barinsteine Nuramons und Yargirs faszinierten sie, und so hatte sie sich schon früh daran gemacht, selbst Lichtsteine zu schaffen. Diese waren zwar nicht so beständig wie die Barinsteine, doch Nerimee vermochte die Stärke des Lichtes festzulegen und zu ändern und tönte es gern mit Stoffen und Papier, mit denen sie die Steine umwickelte oder umschirmte. »Wie die Zelte vor der Burg der Elfenkönigin«, hatte Nuramon ihr gesagt, als er die Stoffschirme gesehen hatte.
Daoramu setzte sich an Nerimees Bett und strich ihrer schlafenden Tochter durch das volle Haar. Es war das Haar der Milendyrer Frauen, des Grafenhauses ihrer Mutter im Fürstentum Nyrawur. Ein wenig dunkler als das Nuramons, glänzte es im Licht des magischen Steins. Wenn Yendred nach Nuramon kam, und Gaerigar Daoramus Vater ähnlich war, so fügten sich in Nerimees Erscheinung Nuramon und Daoramu ideal zusammen. Und die Ähnlichkeiten, die Nerimee mit Daoramu teilte, hatten ihr ein neues Selbstbewusstsein beschert. Sie hatte sich nie als besonders schön betrachtet, sondern geglaubt, dass sie lediglich das Beste aus sich gemacht hatte. Doch die Ähnlichkeiten, auf die sie Nuramon, ihre Eltern und ihre Freunde hinwiesen, hatten sie mit frischem Blick auf sich selbst schauen lassen und ihr zur Zufriedenheit verholfen. Ihr kleines Kinn, ihr Lächeln, die Augenfalten, es gefiel ihr nun.
Nerimee griff Daoramus Hand und öffnete langsam ihre braunen Augen.
»Geht es dir besser?«, fragte Daoramu.
Nerimee atmete schwer und setzte sich langsam auf. »Die Kopfschmerzen sind weg.«
»Du hättest auf deinen Vater warten sollen«, sagte Daoramu und lächelte bei dem Gedanken daran, Nuramon schon bald wieder in die Arme zu schließen. Nerimee hatte sich in der Abwesenheit des Vaters auf eigene Faust an einem schwierigen Heilzauber versucht, den sie auf einen Stein hatte legen wollen. Irgendetwas war missglückt. Nerimee hatte es ihr erklärt, aber sie hatte kaum etwas verstanden. Wenn ihre Tochter mit Nuramon über Magie sprach, hätten sie genauso gut elfisch sprechen können, was sie gelegentlich sogar taten. Nerimee spielte zwar ihre Fähigkeiten herunter, aber Nuramon meinte, sie hätte ein Gespür für das Elfische, wenngleich ihr Wortschatz schmal bemessen war.
»Versprichst du mir, ihm nichts zu verraten?«, sagte Nerimee.
»Glaub mir, er wird es merken.«
Sie schmunzelte. »Ich möchte, dass er es von mir hört.« Dann senkte sie den Blick. »Ich mache mir Sorgen um Waragir.«
»Dann stimmt es also.«
Nerimee nickte. »Wir sind zusammen.«
»Das wird dein Großvater nicht gern hören. Seine Enkelin schenkt dem Sohn seiner obersten Leibwächter das Herz. Die Leute werden sich das Maul zerreißen.« Sie verschwieg Nerimee, dass sie in Waragir schon seit langem den Schwiegersohn sah.
»Das interessiert mich nicht. Ihr könnt sagen, was ihr wollt.«
Daoramu lachte. »Ich soll dir wohl den Umgang mit Waragir verbieten, was? Damit du ihn noch mehr liebst.«
»Ein richtiger Streit, der mich in Waragirs Arme treibt. Und am Ende erinnere ich dich, wie du damals mit Vater durchgebrannt bist«, sagte Nerimee grinsend. »Mutter! War es damals etwa falsch, dass du mit Vater fortgegangen bist?« Sie übertrieb maßlos mit ihrer Stimme. »War es falsch, dass ich und meine Brüder geboren
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