Nuyen, Jenny-May - Nijura, das Erbe der Elfenkrone
sich das Sonnenlicht verfangen hatte.
Nill beschloss, Ruhe zu bewahren und sich nicht schon am zweiten Tag ihrer Reise verfolgt zu fühlen
– schließlich war sie hier in den Dunklen Wäldern!
Sie war gewiss der einzige Mensch weit und breit.
Aber trotz allem konnte sie ihr Unwohlsein nicht völlig vertreiben. Es hatte sich kalt und kribbelnd in ihr verankert.
Das Flüstern im Schilf
An diesem Abend beschloss Nill, kein Feuer zu entfachen. Sie wickelte sich dicht in Umhang und Decke, zog die Knie an und machte sich in der Erdmulde, die sie gefunden hatte, so klein wie möglich.
Rings um sie beugte sich das Schilfgras über ihr Schlaflager. Ein paar Schritte weiter, wo die Wurzelarme einer alten Weide ins Wasser griffen, fiel der Boden senkrecht zum Fluss ab. Nill war an den Wurzeln heraufgeklettert, ansonsten konnte man das Ufer kaum erklimmen.
Nun lag sie zusammengerollt wie ein Fuchs in ihrem Versteck und nagte an einem Stück Fladenbrot, während ihr Blick durch das Dunkel streifte. Sie
musste die Augen anstrengen, um besser zu sehen.
So nahm sie das Mondlicht auf dem vorbeiströmenden Wasser heller wahr; es rahmte die Baumstämme und die Schilfrohre mit einem bleichen Schein, kaum wahrnehmbar für alle, die nicht wie ein Nachttier sehen konnten – oder wie eine Elfe.
Nill wurde mulmiger zumute, denn jetzt, da es dunkel war, kehrten ihre Befürchtungen zu ihr zu-rück. Sie war müde, und doch erlaubte ihr der kalte Schauder, der ihr bei jedem Geräusch über den Rü-
cken lief, nicht zu schlafen. Ihre Augen wurden schwer. Die Hände, die sie zu schwitzenden Fäusten geballt hatte, entkrampften sich. Trotzdem blieben ihre Finger um die Steine geschlossen, die sie dicht an ihrer Brust hielt. Falls etwas in dieser Nacht kommen würde – falls – dann würde Nill die Steine werfen, die sie vorher aus dem Wasser gesammelt hatte. Neben ihrer Hüfte lag das Jagdmesser aus ihrem Quersack.
Schließlich übermannte Nill die Müdigkeit. Sie fiel in leichten, traumlosen Schlaf.
Vorsichtig schlich er durch das Schilf. Er schlich auf Händen und Knien, so wie ein Raubtier sich an-pirscht. Seine Bewegungen waren geschmeidig wie die eines Wolfs, seine Augen so wachsam wie die einer Eule. Das Schilfgras rauschte wie in einem sachten Wind, als er es zur Seite strich.
Er beobachtete sie einige Atemzüge lang. Im Mondschein schimmerten die Konturen ihrer Gestalt,
doch sie war in eine Decke gehüllt, und ein Blick in ihr Gesicht blieb ihm verwehrt.
Auch egal. Er wusste ja, wie sie aussah. Er wusste, wie sie sich bewegte; auf diese scheue, zögernde Art, deren Grund ihm noch ein Rätsel war. Es war nicht wichtig, dass er in diesem Moment kaum mehr von ihr erkennen konnte als ein rundes Knäuel aus Stoff.
Das Entscheidende war, dass er ihr nahe war – näher als es vorher möglich gewesen wäre. Er glaubte fast den Atem der Schlafenden in der Luft zu spüren.
Plötzlich raschelte es neben ihm. Ein stämmiges, großes Tier, wie ein einziger Schattenfleck in der Nacht, und ein junger Mann erschienen in der Dunkelheit.
»Erijel – was machst du hier?«, flüsterte er so leise, dass seine Stimme fast vom Zirpen der Grillen verschluckt wurde.
»Was machst du hier?«, entgegnete der Neuankömmling.
»Geh zurück zu den anderen. Bitte.«
Statt Antwort zu geben oder gar der Bitte zu folgen, wandte der Neuankömmling sich der Schlafenden zu. »Du meinst also, das ist sie.«
»Psst! Du redest zu laut.«
Ein warmes Lachen erklang. »Das ist ein Mensch, Kaveh … Die hören nicht einmal das Brüllen der Bäume im Sturm.«
Später wusste Nill nicht mehr, warum sie erwacht war. Die Geräusche waren sicher nicht laut genug gewesen, um jemanden zu wecken.
Und doch – sobald sie aus dem Schlaf glitt, bemerkte sie sie. Die Stimmen. Sie hingen in der Luft wie feines Windrauschen. Jemand war hier.
Nill wagte nicht zu schlucken. Ihre Faust schloss sich um einen Stein. Die absurde Furcht beschlich sie, sie könnte plötzlich die Macht über ihren Körper verlieren und ihre Beine oder Arme könnten mit einem Mal unkontrolliert zucken. Ganz langsam öffnete sie die Augen.
Nichts. Nur das hohe Schilfgras fispelte. Warte, mahnte sie sich. Warte …
Und wieder waren da Stimmen. So leise, dass sie nur aus weiter Ferne kommen konnten. Gleichzeitig spürte Nill aber, dass sie nah waren, greifbar nah.
Kein Mensch konnte so leise flüstern – das war un-möglich! Nill hörte jetzt die Worte, aber sie machten keinen Sinn.
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