Nybbas Nächte
wärmen.
Das Haus, das sich langsam aus dem Dickicht schälte, musste vor langer Zeit sehr schön gewesen sein mit seinen Erkern und Türmchen. Nun bröckelten die Reliefs von der Fassade und die Säulen neben dem Eingang waren von grauem Pilz überwuchert. Doch der Zugang zur Haustür war trotz der Tauben auf dem Dach makellos geputzt, was darauf hindeutete, dass hier noch jemand lebte.
Nicholas griff nach dem Türklopfer und ließ den Eisenring gegen das Holz krachen. Eine alte Frau in einer Dienstbotentracht, die ihre besten Zeiten hinter sich hatte, öffnete innerhalb von Sekunden. Er versuchte es zunächst freundlich, um niemanden versehentlich zu verärgern. Niemand bedeutete in diesem Fall: ein Dämonenfürst.
„Guten Morgen, mein Name ist Nicholas Ânjâm. Ist der Hausherr zu sprechen?“
Leider sprach die Dienerin kein Wort Englisch oder Deutsch. Nicholas versuchte es auf Spanisch und Portugiesisch, erntete irritierte Blicke und hatte erst mit seinen angestaubten Französischkenntnissen Glück. Die alte Frau antwortete zwar nicht, doch sie schien die Worte zu kennen und verschwand im Haus. Nach kurzem Warten erschien eine zweite Frau, eine streng aussehende Dame mit spitzem Kinn und hohen, aristokratischen Wannenknochen. Ihr Gesicht war unter zu viel Make-up kaum zu erkennen, doch Nicholas konnte erahnen, dass sie trotz fortgeschrittenem Alter unter der Schicht aus Farbe noch eine ansehnliche Erscheinung sein musste. Vor allem aber spürte er Macht. Macht, die einen Menschen dazu veranlassen konnte, im Angesicht dieser Frau vor Furcht davonzulaufen, um sich im Nachhinein sein gesamtes Leben danach zu sehnen, ihr nahe zu sein.
Er hatte den Fürsten gefunden. Auch wenn dieser in dem dunkelgrünen Kostüm mit goldenen Ketten, Armreifen, und Rubinen im Dekolleté sowie an den Ohren an einen wandelnden Weihnachtsbaum erinnerte. Sehr stilvoll, ja. Oh Dreck, die Hölle ging vor die Hunde.
„Willkommen“, sagte Madame Weihnachtsbaum und bat ihn mit einer Handbewegung hinein.
Neugier troff aus ihrer Stimme. Zwar sprach sie Englisch, doch sie bediente sich eines französischen Akzents,der aufgesetzt wirkte. Sie führte ihn durch eine Halle in einen Salon, der an die Kulisse eines Stummfilms aus den Goldenen Zwanzigern erinnerte. Er hatte gehört, dass der Fortschritt der vergangenen Jahre viele sehr alte Dämonen mit seiner Geschwindigkeit überforderte, sodass sie sich von der Außenwelt zurückzogen und innerhalb der Mauern ihrer Anwesen in einer Illusion der Zeit verharrten, die ihnen vertraut war. Dies zu sehen war faszinierend und zugleich beängstigend. Wie lange sollte es dauern, bis seine Zeit abgelaufen war und er sich vor jedem neuen Tag zwischen Antiquitäten versteckte?
Die Frau setzte sich auf einen mit goldenem Samt gepolsterten Ohrensessel und wies ihm einen Stuhl zu. „Was verschafft mir die Ehre eines Besuches so früh am Morgen?“
„Habt Dank, mich einzulassen.“ Nicholas wägte seine Worte sorgfältig ab. Es war sicher nicht ungewöhnlich, dass ein Dämon den Kontakt zu einem Fürsten suchte. Allein dass man ihn bereitwillig hereingelassen hatte, sprach dafür, dass die Frau, in der sich der gigantische Leviathan verbarg, an unangemeldeten Besuch gewöhnt war. Dennoch war Vorsicht angebracht. Ein Handel mit dem Fürsten über den Neid konnte schnell Dinge kosten, die er nicht herzugeben bereit war.
„Ich komme mit einer Bitte, Fürstin“, sagte er schließlich. In ihren eisgrauen Augen blitzte es. Natürlich hatte sie gespürt, dass er ein Dämon war, doch war sie offenbar nicht davon ausgegangen, er könne von ihrem hohen Rang wissen.
„Ich werde selten um etwas … gebeten“, erwiderte sie.
„Das trifft sich ausgezeichnet, denn ich bitte auch nur selten.“
Sie sinnierte darüber und kam offenbar zu einem passablen Ergebnis, denn sie nickte wohlwollend. Ehe sie etwas sagen konnte, erschien die alte Dienerin mit einem Tablett, von dem sie mit schwerfälligen Bewegungen zwei Tassen mit duftendem Kaffee sowie eine Platte mit Piroggen auf den Tisch lud. „Bediene dich“, wies sie ihn herrisch an. „Oder trinkst du Tee?“
Nicholas winkte ab. Wodka wäre nicht schlecht gewesen, doch dass man diesen in Russland schon zum Frühstück servierte, war augenscheinlich ein Gerücht.
„Dann erzähle mir, mit welcher Bitte du dich an mich wendest.“
Er kaute ein Stück mit eingelegten Aprikosen gefüllten Blätterteig sorgfältig, schluckte und trank einen großen Schluck viel
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