Obduktion
mit dem Mikroskop ein paar Objektträger mit Proben zu untersuchen. Chet schaute auf und stieß sich vom Arbeitstisch ab.
»Es war nicht ganz das, was ich erwartet hatte«, gestand er.
»Wieso?«
»Ich weiß nicht, was ich Samstagabend gedacht hatte«, sagte er kopfschüttelnd. »Ich muss total neben mir gestanden haben. Die Frau hatte das Format eines Pferdes.«
»Tut mir leid zu hören«, erwiderte Jack. »Dann war sie am Ende wohl doch nicht die Eine.«
Chet machte eine Geste, als wolle er ein lästiges Insekt verscheuchen, und schnaubte höhnisch. »Mach du nur deine Witze. Ich hab’s nicht anders verdient.«
»Ich wollte mit dir noch mal über deinen Fall von Vertebralisdissektion sprechen, den du gestern erwähnt hast«, sagte Jack und versuchte, den Enthusiasmus zu zügeln, den er bei seinem Kreuzzug gegen die seiner Meinung nach irrationale Beliebtheit alternativer Medizin entwickelt hatte. Er war inzwischen noch überzeugter als zuvor. Sie war nicht nur teuer, sondern im Großen und Ganzen, vom Placeboeffekt einmal abgesehen, sogar
unwirksam. Eine ungute Kombination. Und als wäre es damit noch nicht genug, war sie sogar manchmal regelrecht gefährlich — das wusste Jack inzwischen. Er fühlte sich sogar persönlich dafür verantwortlich, dass sich die Rechtsmedizin in dieser Angelegenheit noch nicht ihrer Verantwortung gestellt und eindeutig Position bezogen hatte.
Nach seinem Besuch bei Ronald Newhouse am vorangegangenen Nachmittag hatte sich Jacks Meinung darüber noch bekräftigt, obwohl er sich nachträglich eingestehen musste, dass es ein Fehler gewesen war, sich von seinen Emotionen derart hinreißen zu lassen. Er hatte später am selben Tag noch eine Internetrecherche gemacht und dabei eine enorme Vielzahl von Informationen gefunden, die es unnötig gemacht hätten, Newhouse zur Rede zu stellen. Ihm war vorher gar nicht bewusst gewesen, wie viele »Studien« durchgeführt worden waren, um den Nutzen alternativer oder komplementärer Medizin zu beweisen oder zu widerlegen. Seine Suche führte ihm auch wieder vor Augen, was er für den größten Nachteil des Internets hielt: zu viele Informationen und keine verlässliche Methode, die Hintergründe der Quellen zu überprüfen.
Zufälligerweise stieß er mehrfach auf Informationen, die auf das Buch Gesund ohne Pillen verwiesen, das er sich zuvor bei Barnes & Nobles hatte zurücklegen lassen. Ein kurzer Blick auf den Hintergrund der Autoren hinterließ auf jeden Fall einen guten Eindruck. Der eine war der Verfasser des Buches Big Bang, das er schon vor ein paar Jahren mit Genuss gelesen hatte. Die wissenschaftlichen Kenntnisse des Mannes, besonders auf dem Gebiet der Physik, waren bewundernswert und gaben Jack allen Grund, auch der Meinung des Autors über das Gebiet der Alternativmedizin zu trauen. Der zweite Verfasser
war ein studierter Schulmediziner, der viel Zeit und Mühe investiert hatte, um sich in verschiedenen Gebieten der Alternativmedizin ausbilden zu lassen, und in beiden Welten praktische Erfahrungen gesammelt hatte. Das war genau der richtige Hintergrund, um die unterschiedliche Herangehensweise beider Ansätze zu überprüfen und vorurteilsfrei miteinander zu vergleichen. So bestärkt hatte Jack die Internetrecherchen beendet und war früh von der Arbeit aufgebrochen, um sein Buch abzuholen.
Als Jack dann am Abend nach Hause kam, hatte er Laurie und JJ zu seiner Enttäuschung nur noch schlafend vorgefunden. Auf der Konsole bei der Wohnungstür lag ein Zettel: »Schlechter Tag. Viele Tränen und kein Auge zugemacht. Jetzt schläft er. Die Gelegenheit muss ich auch nutzen. Suppe ist auf dem Herd. Kuss, L.«
Der Zettel bewirkte, dass Jack sich schuldig und einsam fühlte. Er hatte tagsüber absichtlich nicht angerufen, weil er Laurie nicht aufwecken wollte, wie es früher schon geschehen war. Obwohl er sie immer darin bestärkte, ihn anzurufen, wenn sie Zeit dazu hatte, tat sie es nie. Er hoffte sehr, der Grund dafür war nicht, dass er weiterhin zur Arbeit gehen konnte, während sie zu Hause bleiben musste. Aber selbst wenn das der Grund wäre, so wusste er doch, dass sie niemals etwas anderes zulassen würde.
Aber seine Schuldgefühle rührten in Wahrheit nicht daher, dass er es versäumt hatte anzurufen, sondern daher, dass er eigentlich gar nicht wissen wollte, was zu Hause vor sich ging. An manchen Tagen wollte er nicht einmal heimgehen. Denn wenn er in der Wohnung war, konnte er die Krankheit seines Sohnes und sein eigenes
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