Ocean Rose. Verwandlung (German Edition)
sofort wieder zugeschlagen.
Ich wartete, und als die Tür geschlossen blieb, klopfte ich noch einmal energischer. »Bitte«, rief ich, »ich weiß ja, dass Sie mich nicht sehen wollen. Ich würde Sie in Ruhe lassen, wenn es nicht so wichtig wäre.«
Noch immer keine Reaktion. Ich klopfte erneut und beugte mich über das Treppengeländer, um in das Fenster zu schauen. Durch den weißen Gazevorhang sah ich eine hochgewachsene Gestalt in einem fast leeren Wohnzimmer. Sie stand mit dem Rücken zu mir, hatte eine Hand auf das Kaminsims gelegt und presste die andere an ihre Brust. Ihre Schultern hoben und senkten sich hastig, als müsse sie nach Atem ringen.
»Bitte«, flehte ich noch einmal mit kratziger Stimme und klopfte gegen das Fenster. »Ich brauche Ihre Hilfe.«
Sie hob den Kopf, rührte sich aber ansonsten nicht. Anscheinend wollte sie einfach dort bleiben und meine Rufe ignorieren. Ich schaute mich um, ob jemand nah genug war, um ungewollt mitzuhören. Meinetwegen sollte sie mich vor der Tür stehen lassen, trotzdem würde ich erst gehen, wenn ich gesagt hatte, was ich sagen wollte.
»Hallo, Vanessa.«
Ich fuhr herum. Während ich mich nach Lauschern umgeschaut hatte, war die Tür doch geöffnet worden.
»Willa?«, fragte ich. War das wirklich dieselbe Frau? Ich hatte sie erst ein einziges Mal im Café gesehen, und da hatte sie in einer schlabberigen Hose und einem zu großen Shirt gesteckt, ihr Haar war unter einer Baseballmütze verborgen gewesen, und das Gesicht hatte unter dem Mützenschirm im Schatten gelegen. Aber jetzt trug sie schwarze Jeans, eine zarte Seidenbluse und darüber einen elfenbeinfarbenen Kaschmirmantel, der fast bis zum Boden reichte. Ihr langes weißes Haar hatte sie zu einem losen Zopf geflochten. Das Blau ihrer Augen bildete einen auffälligen Kontrast zu ihrer cremefarbenen Haut. Selbst ihre Altersfalten sahen butterweich aus. »Wie schön Sie sind!«, sagte ich.
Sie warf mir ein kurzes, unsicheres Lächeln zu. »Komm doch herein.«
Als ich durch die offene Tür an ihr vorbeiging, hatte ich den Eindruck, dass sie mir bekannt vorkam – und zwar nicht nur wegen unseres flüchtigen Treffens im Café. Bevor ich länger darüber nachdenken konnte, wo ich sie schon einmal gesehen haben könnte, bot sie mir einen Platz an.
»Ziehen Sie gerade um?«, fragte ich. Das weiche Plüschsofa, auf dem ich saß, war eins der wenigen Möbelstücke im Raum. Ansonsten gab es noch einen passenden Sessel, einen Couchtisch und eine Vase mit weißen Lilien. Die Wände waren kahl und die Regale der Einbauschränke leer.
»Ich mag es so einfach wie möglich«, erwiderte sie und setzte sich mir gegenüber.
»Wollten Sie mich deshalb nie sehen?« Die Frage rutschte mir unwillkürlich heraus. Willa zuckte zusammen, als hätte ich sie ins Gesicht geschlagen. »Tut mir leid, das klang anders als beabsichtigt. Ich meinte nur …«
»Du brauchst dich nicht zu entschuldigen.« Sie schüttelte den Kopf und entspannte sich wieder. »In dieser Situation hast du ein Recht auf jedes denkbare Gefühl – Verwirrung, Enttäuschung, Wut. Man hat dir kaum etwas von der Wahrheit erzählt, und das tut mir sehr leid.«
Ich nickte und starrte auf meine Hände im Schoß. Nun hatte ich Willa also gefunden und zum Reden gebracht, doch plötzlich fiel mir fast nichts mehr ein, was ich ihr hatte sagen wollen. »Aber Ihnen hat man von mir erzählt, richtig?«, fragte ich leise. »Mein Vater hat Sie regelmäßig auf dem Laufenden gehalten.«
»Ja, weil ich es so verlangt habe.«
»Zu der Abmachung gehörte auch, dass Sie mir alles über meine Mutter erzählen, wenn ich frage.«
»Stimmt.« Sie beugte sich zu mir vor. »Was möchtest du wissen?«
Was Charlotte für ein Mensch gewesen war. Warum sie so und nicht anders gehandelt hatte. Wieso Dad ihr nicht hatte widerstehen können, obwohl er Mom liebte. Weshalb sie nach einem Jahr plötzlich verschwunden war und mich bei einer Familie zurückgelassen hatte, die mich nie wirklich verstehen konnte – nicht auf die Art, wie sie selbst es getan hätte. Mir wirbelten so viele Fragen durch den Kopf, dass mir ganz schwindelig wurde.
»Wie haben die beiden sich kennengelernt?«, brachte ich schließlich heraus.
Die weichen Falten in ihrem Gesicht vertieften sich, als sie lächelte. Die Ähnlichkeit zwischen ihr und dem Foto von Charlotte war unverkennbar, auch wenn sie sehr viel älter erschien, als meine Mutter jetzt gewesen wäre. Vermutlich hatte Willa die sechzig schon
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