Ocean Rose. Verwandlung (German Edition)
ich gerade geschluckt hatte, blieb mir in der Kehle stecken.
»Oh, tut mir leid.« Paige klopfte mir auf den Rücken, während ich nach Luft japste. »Ich habe gewinkt und dachte, du hättest mich gesehen.«
Ich schaffte es, das Wasser hinunterzuwürgen. »Du hast deine Liste schon abgearbeitet?«
Sie hielt ein Notizbuch in die Höhe. Die Dutzende von Colleges, über die sie sich hatte informieren wollen, waren allesamt mit rotem Stift durchgestrichen.
»Entweder sind sie zu groß und anonym, zu klein und elitär, verlangen zu viel Geld oder zu gute Noten. Offenbar halten mich hier alle für gewöhnlich.« Sie ließ die Hand mit dem Notizbuch sinken. »Der Typ von Amherst hat mich gefragt, was ich für Sport treibe. Als ich gesagt habe, dass ich in meiner Freizeit öfter schwimmen gehe, hat er sich wegen eines wichtigen Anrufs entschuldigt und ist stattdessen an den Getränketisch verschwunden.«
»Sein Pech«, sagte ich. »Diese Elite-Unis stecken alle so in ihren verstaubten Traditionen fest, dass sie gar nicht merken, was ihnen entgeht.«
»Mir entgeht jedenfalls nichts, wenn ich jetzt abhaue. Ich bin ziemlich geschafft. Am besten hole ich mir eine Erlaubnis von der Krankenschwester und gehe früher nach Hause.«
»Soll ich mitkommen? Wir können zusammen was essen. Oder vielleicht ins Kino?«
»Danke, aber ich möchte lieber eine Weile allein sein.« Anscheinend sah sie mir meine Besorgnis an, denn sie fügte hinzu: »Mir geht es gut, ehrlich. Ich will bloß ein paar Dinge in meinem Kopf klarbekommen. Wie es mit der Ausbildung weitergeht. Wie meine Zukunft aussieht. Solchen Kram eben.«
»Okay«, gab ich widerwillig nach. »Aber ruf mich an, wenn du deine Meinung änderst.«
»Klar.«
Ich schaute ihr nach, während sie in der Menge verschwand, und setzte dann meinen Weg fort. Als ich bei einem großen Werbeaufsteller ankam, der fünf überglückliche Studenten mit ihren Abschlusszeugnissen der Universität von Massachusetts zeigte, nutzte ich die Gelegenheit. Ich duckte mich in die Nische zwischen dem Pappaufsteller und der Wand, hockte mich auf den Boden, lehnte meinen Kopf an das kühle Gemäuer hinter mir und schloss die Augen.
»Du siehst aus, als wärst du auch lieber zu Hause unter der Bettdecke geblieben«, bemerkte eine schüchterne Stimme.
Ich schaute nach links und entdeckte nur ein paar Schritte weiter ein Mädchen ungefähr in meinem Alter. Es saß mit angezogenen Knien da und verbarg sich hinter einem Samtvorhang, mit dem ein College seine Werbung verschönert hatte.
»Ich mag keine Menschenmengen«, sagte ich.
»Geht mir genauso. Ich bin nur hier, weil ich meinen Job nicht verlieren will.«
Bei dieser Antwort hob ich überrascht den Kopf. In ihrem grauen Wollkostüm und mit dem dezenten Perlenschmuck sah sie tatsächlich reifer aus als die meisten Schülerinnen, andererseits hatte sie knallrote Pausbäckchen, trug das Haar unordentlich hochgesteckt, und ihre Augenlider waren schwarz verschmiert, als hätte ihr beim Schminken die Hand gezittert. Bestimmt konnte sie nicht älter als neunzehn oder zwanzig sein.
»Job?«, echote ich ungläubig.
»Ich arbeite für …« Sie ging in die Hocke, linste um den Vorhang herum und huschte geduckt von ihrem Versteck in meins, als die Luft rein war. »… für Dartmouth«, vollendete sie ihren Satz und kauerte sich neben mich.
Vor mir sah ich wieder Justines Kommentar auf dem Bewerbungsformular, mit dem sich Moms größte Angst bestätigt hatte, dass ihre älteste Tochter – ihre einzige Tochter – nicht auf ein Elite-College kommen würde.
Sorry, ich habe keine Ahnung – aber du genauso wenig.
»Ich habe in Dartmouth studiert und arbeite jetzt für die Erstsemesterberatung«, fuhr das Mädchen fort und fächelte sich mit einer Hand Luft zu. »Als ich im Frühjahr meinen Abschluss gemacht habe, wusste ich nicht, was ich als Nächstes tun sollte. Am College bringen sie dir hervorragend bei, wie du zu denken hast, aber es gibt keinen einzigen Kurs, der dich auf das Überleben in der wirklichen Welt vorbereitet.«
»Du hast einen College-Abschluss?«
»Schon klar, ich sehe aus wie zwölf. Aber in Wirklichkeit bin ich zwanzig – mit der Highschool war ich auch früher fertig als alle anderen. Das ist übrigens der Hauptgrund, warum ich nicht weiß, was ich jetzt mit mir anfangen soll. Ich war so damit beschäftigt, in Rekordtempo ans Ziel zu gelangen, dass ich nie darüber nachgedacht habe, wo ich überhaupt hinwill.«
»Und dann hast du
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