Ochajon 04 - Das Lied der Koenige
denen Nita schnell und gelassen eine neue Saite aufgezogen hatte. Er hatte das Baby auf dem Arm gehalten und war zu ihr gegangen, um zu sehen, wie sie die Stimmwirbel mit der rechten Hand gelockert hatte, den Rest der gerissenen Saite herauszog, und er folgte mit den Augen der Vorsicht, mit der sie das glatte Ende der neuen Saite hielt, und den Weg, den die Saite vom Saitenhalter über Steg und Sattel zum Hals bis zum Wirbelkasten und den Stimmwirbeln nahm. Er hatte auf ihre Hand geschaut, die die Saite in die kleinen Löcher fädelte und sie aufwickelte, bevor sie an den Stimmwirbeln drehte. Dann zog sie die Saite fest, schlug sie an und lauschte konzentriert, schlug die übrigen Saiten an, und plötzlich, als sie den erstaunten Blick wahrnahm, der an ihren Händen haftete, hatte sie die Augen gehoben und amüsiert gelächelt, wie man ein Kind anlächelt, das fasziniert den Händen eines Zauberers folgt. »Was ist los?« hatte sie munter gefragt, und er hatte die Schultern gezuckt und geantwortet: »Ich habe es noch nie von nahem gesehen. Ich frage mich, warum sie gerissen ist?«
»Es ist nichts Besonderes«, hatte sie amüsiert geantwortet. »Der Grund ist die Materialermüdung. Wie das Kü chenregal, das vorgestern plötzlich runterkam. Ich habe dich gefragt, warum es plötzlich herunterfallen kann, ohne daß jemand es berührt hätte, ohne daß überhaupt einer in der Küche war. Ich hatte es auch nicht schwerer als sonst beladen. Und was hast du mir geantwortet: Materialermüdung! Das ist wohl auch die passende Erklärung für die Saiten.«
»Es liegt nicht an deiner Art zu spielen?« fragte er vorsichtig. »Du hast sie auf jeden Fall ziemlich kräftig gezupft.«
Ihr Gesicht hatte sich verfinstert. »Das ist eine schwierige Stelle«, hatte sie sich verteidigt. »Versuch du mal ein pizzicato in forte . Hier, hier steht fortissimo «, hatte sie argumentiert und mit dem Kopf zum Notenständer gezeigt. »Sieh es dir an.«
»Nita«, hatte er damals gesagt. »Hör auf, ich weiß, daß du übst, ich will es nur verstehen. Was erschrickst du, als wäre ich ein Musikkritiker. Du weißt, daß ich in diesen Dingen ein völliger Idiot bin.«
»Nach der langen Zeit, in der ich nicht gespielt habe ... Und auch schon vorher habe ich nicht sehr viel von mir gehalten ... ist es ganz natürlich, daß ich sehr unsicher bin ...«, hatte sie verlegen entgegnet, tief durchgeatmet und mit klarer, gefaßter Stimme erklärt: »Es hängt nicht mit der Spielweise zusammen. Wenn du mich fragst, warum eine Saite reißt, ist die einzig mögliche Antwort die Materialermü dung. Es heißt, daß auch Temperaturunterschiede manch mal der Grund dafür sind. Aber meiner Meinung nach liegt es einzig an der Materialermüdung.«
»Kann jeder die Saiten so gut auffädeln?«
Sie kicherte. »Klar«, sagte sie. »Und auch genauso schnell. Wie ein Rennfahrer schnell ein Rad am Auto wechseln kann. Meinst du, daß das in Konzerten nicht passiert?«
»Paganini ...«, war ihm eingefallen. Und beinahe hätte er Becky Pomeranz erwähnt, aber im letzten Augenblick sagte er nur: »Mir hat mal jemand in meiner Jugend erzählt, daß Paganini in einem Konzert einmal alle Saiten gerissen sind ...«
»Nicht alle«, präzisierte Nita, »nur drei. Der Legende nach ist eine Saite übriggeblieben, auf der er das ganze Kon zert gespielt hat. Es heißt auch, daß er die anderen Saiten absichtlich zum Reißen brachte, um seine Virtuosität zu demonstrieren. Das war wirklich außergewöhnlich«, hatte sie zerstreut gesagt, den Kopf geneigt, ihn sehr nah an das Cello gebracht und die Saiten nacheinander gezupft. »Gut, ist das eine Quint? Was meinst du? Nicht ganz, nicht wahr?« Wie der hatte sie den Stimmwirbel gelockert, die neue Saite noch ein wenig gestrafft, gezupft, gelauscht, genickt und zufrieden geäußert: »Jetzt ja.«
»Fangen Sie draußen an, mit den Kästen der Streicher. Sa gen Sie nicht, wonach Sie suchen. Fragen Sie sie nur über al les aus, um herauszufinden, ob einem eine Ersatzsaite fehlt. Bald kommen noch ein paar Leute von der Mordkommission. Die werden Sie unterstützen. Aber in diesem Stadium wissen nur Sie, wonach wir suchen. Anschließend, wenn wir dort nichts finden, kommen Sie zurück und stellen hier alles auf den Kopf, bis wir eine einzelne Saite finden«, verkündete Michael den Leuten von der Spurensicherung. »In der Zwischenzeit bleibt nur Schimschon hier. Es ist unwahrscheinlich, daß jemand die Saite mit all dem Blut eingesteckt
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