Odyssee: Fischer Klassik PLUS (German Edition)
Sterblichen ausruhn,
Lieg ich schlaflos im Bett, und tausend nagende Sorgen
Wühlen mit neuer Wut um meine zerrissene Seele.
Wie wenn die Nachtigall, Pandareos’ liebliche Tochter,
Ihren schönen Gesang im beginnenden Frühling erneuert
(Sitzend unter dem Laube der dichtumschattenden Bäume,
Rollt sie von Tönen zu Tönen die schnelle melodische Stimme,
Ihren geliebten Sohn, den sie selber ermordet, die Törin,
Ihren Itylos klagend, den Sohn des Königes Zethos):
Also wendet sich auch mein Geist bald hiehin bald dorthin:
Ob ich auch weile beim Sohn und alle Güter bewahre,
Meine Hab und die Mägd’ und die hohe prächtige Wohnung,
Scheuend das Lager des Ehegemahls und die Stimme des Volkes,
Oder jetzt von den Freiern im Hause den tapfersten Jüngling,
Welcher das meiste geschenkt, zu meinem Bräutigam wähle.
Als mein Sohn noch ein Kind war und schwachen Verstandes, da durft ich
Ihm zuliebe nicht wählen, noch diese Wohnung verlassen;
Nun, da er größer ist und des Jünglings Alter erreicht hat,
Wünscht er selber, ich möge nur bald aus dem Hause hinweggehn,
Zürnend wegen der Habe, so ihm die Achaier verschwelgen.
Aber höre den Traum und sage mir seine Bedeutung.
Zwanzig Gänse hab ich in meinem Hause, die fressen
Weizen mit Wasser gemischt, und ich freue mich, wenn ich sie anseh.
Aber es kam ein großer und krummgeschnabelter Adler
Von dem Gebirg und brach den Gänsen die Hälse; getötet
Lagen sie all im Haus, und er flog in die heilige Luft auf.
Und ich begann zu weinen und schluchzt im Traume. Da kamen
Ringsumher, mich zu trösten, der Stadt schönlockige Frauen;
Aber ich jammerte laut, daß der Adler die Gänse getötet.
Plötzlich flog er zurück und saß auf dem Simse des Rauchfangs,
Wandte sich tröstend zu mir und sprach mit menschlicher Stimme:
Tochter des fernberühmten Ikarios, fröhlichen Mutes!
Nicht ein Traum ist dieses, ein Göttergesicht, das dir Heil bringt.
Jene Gänse sind Freier, und ich war eben ein Adler;
Aber jetzo bin ich, dein Gatte, wiedergekommen,
Daß ich den Freiern allen ein schreckliches Ende bereite.
Also sprach der Adler. Der süße Schlummer verließ mich;
Eilend sah ich im Hause nach meinen Gänsen, und alle
Fraßen aus ihrem Troge den Weizen, so wie gewöhnlich.
Ihr antwortete drauf der erfindungsreiche Odysseus:
Fürstin, es wäre vergebens, nach einer anderen Deutung
Deines Traumes zu forschen. Dir sagte ja selber Odysseus,
Wie er ihn denkt zu erfüllen. Verderben drohet den Freiern
Allzumal, und keiner entrinnt dem Todesverhängnis.
Ihm antwortete drauf die kluge Penelopeia:
Fremdling, es gibt doch dunkle und unerklärbare Träume,
Und nicht alle verkünden der Menschen künftiges Schicksal.
Denn es sind, wie man sagt, zwo Pforten der nichtigen Träume:
Eine von Elfenbein, die andre von Horne gebauet.
Welche nun aus der Pforte von Elfenbeine herausgehn,
Diese täuschen den Geist durch lügenhafte Verkündung;
Andere, die aus der Pforte von glattem Horne hervorgehn,
Deuten Wirklichkeit an, wenn sie den Menschen erscheinen.
Aber ich zweifle, ob dorther ein vorbedeutendes Traumbild
Zu mir kam. O wie herzlich erwünscht wär es mir und dem Sohne!
Eins verkünd ich dir noch, und du nimm solches zu Herzen.
Morgen erscheinet der Tag, der entsetzliche! der von Odysseus’
Hause mich trennen wird; denn morgen gebiet ich den Wettkampf,
Durch zwölf Äxte zu schießen, die jener in seinem Palaste
Pflegte wie Hölzer des Kiels in grader Reihe zu stellen;
Ferne stand er alsdann und schnellte den Pfeil durch die Äxte.
Diesen Wettkampf will ich den Freiern jetzo gebieten.
Wessen Hand von ihnen den Bogen am leichtesten spannet
Und mit der Senne den Pfeil durch alle zwölf Äxte hindurchschnellt:
Siehe, dem folg ich als Weib aus diesem werten Palaste
Meines ersten Gemahls, dem prächtigen reichen Palaste,
Dessen mein Herz sich vielleicht noch künftig in Träumen erinnert.
Ihr antwortete drauf der erfindungsreiche Odysseus:
Du ehrwürdiges Weib des Laertiaden Odysseus,
Zögere nicht und gebeut in deinem Hause den Wettkampf.
Wahrlich, noch eher kommt der erfindungsreiche Odysseus,
Ehe von allen, die mühsam den glatten Bogen versuchen,
Einer die Senne spannt und den Pfeil durch die Eisen hindurchschnellt.
Ihm antwortete drauf die kluge Penelopeia:
Fremdling, wolltest du mich, im Saale sitzend, noch länger
Unterhalten, mir würde kein Schlaf die Äugen bedecken.
Aber es können ja doch die sterblichen Menschen
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