Öffne deine Seele (German Edition)
einem Mal wirkte der Aufzug wie eine Zuflucht.
Alles andere hier unten war …
Dennis und die Taschenlampe waren bereits mehrere Schritte entfernt.
Eilig folgte Merz dem Lichtpunkt.
Bei jedem Schritt hörte er ein Knirschen unter seinen Füßen: wie trockenes Laub. Doch es gab kein Laub in einem unterirdischen Stollen.
Der Lichtstrahl in Dennis’ Fingern zitterte, tastete über die Wände und den Boden. Wo er zu sehen war, bestand er aus demselben altersschwachen Bretterwerk wie der Rest der Gänge.
Mit einem raschen Schritt trat Hannahs Ehemann auf die erste Kreuzung.
Kein Folkmar.
Hastig glitt das Licht in die einzelnen Gänge. Auf der rechten Seite traf es nur ein paar Meter entfernt auf einen Berg aus niedergebrochenem Erdreich, dazwischen die Überreste der Holzverkleidung – eine chaotische Ansammlung zerborstener Dielen wie das Skelett einer Riesenechse, die in ihrer Zuflucht verendet war.
Die anderen Richtungen waren frei – und schienen sich nur wenige Schritte entfernt erneut zu verzweigen.
«Er ist uns höchstens ein paar Minuten voraus», murmelte der Anwalt. «Doch in diesem Gewirr kann er überall sein. Hundert Meter entfernt oder …»
«Oder unmittelbar hinter Ihnen», sagte eine mechanische Stimme. «Direkt in Ihrem Rücken, Dr. Merz.»
***
Mein Herz klopft zum Zerspringen.
Mein verzweifelter Ausbruch hat etwas verändert. Ich spüre, dass die Verschnürung an meinem linken Handgelenk etwas lockerer sitzt als zuvor. Mit einem geschickten Manöver könnte ich die Hand womöglich freibekommen und …
Aber das ist sinnlos. Zu diesem Zeitpunkt ist das sinnlos. Justus macht keine Anstalten, sich mir zu nähern, obwohl ich sein Tippen höre, wenn er seinen Sprachcomputer bedient.
Er ist hier im Raum.
Doch er hat keinen Grund, sich mir zu nähern. Seine Maschinerie gehorcht auf Knopfdruck. Erst wenn er die Entscheidung getroffen hat, den grauenhaften Eingriff vorzunehmen, wird er an mich herankommen.
Doch mit Sicherheit wird er mich vorher per Elektroschock betäuben.
Es ist zum Verzweifeln.
Und doch hat die Verzweiflung einem anderen Gefühl Platz gemacht.
Beschämung?
Albrechts Stimme klingt ganz entschieden nicht wie eine Maschine, und doch ist sie kaum wiederzuerkennen. Leise, konzentriert, zerbrechlich zugleich.
Und hypnotisch beinahe.
Ich kann nur beten, dass sie Justus genauso gefangen nimmt wie mich.
«Gestern habe ich Hannah Friedrichs’ Vertrauen enttäuscht», sagt Albrecht. «Und damit das Vertrauen aller meiner Mitarbeiter. Und ich weiß, dass ich keine Möglichkeit habe, diesen Fehler wiedergutzumachen.»
«Es gibt immer eine Möglichkeit, Hauptkommissar», bemerkt Marius begütigend.
Ich sehe ihn bildlich vor mir, den Blick, den Albrecht ihm zuwirft.
«Nun …» Das Achselzucken ist aus Marius’ Stimme zu hören. «Erzählen Sie?»
Albrecht räuspert sich. «Ich habe Hannah Friedrichs gestern Vormittag vom Sieverstedt-Fall abgezogen. Dem Sieverstedt-Fall, dessen Dimensionen wir noch nicht kannten, in dem aber zumindest eine Spur hierher zu Ihnen lief und damit …»
«Zu meinem getreuen Anwalt», vollendet Marius.
Wie ich sie hasse, diese aufgesetzte gute Laune!
«Hannah und die beiden Herren haben Ihnen die Zusammenhänge ja erläutert», murmelt Albrecht. «Unter den gegebenen Umständen war meine Entscheidung absolut vertretbar, um nicht zu sagen zwingend. Unter keinen Umständen dürfen wir uns in einer derartigen Ermittlung auch nur dem Hauch eines Verdachts aussetzen, dass einer unserer Mitarbeiter in der Sache womöglich befangen ist. Und doch habe ich genau das getan.»
Ein Knarren. Vermutlich beugt sich Marius in seinem Stuhl nach vorne.
Wieder sehe ich das Bild deutlich vor mir, obwohl die große Leinwand – und damit die Übertragung des Senders – nur mich zeigt.
Es ist so deutlich in meinem Kopf. Und ich bin mir sicher, dass es sich auch in den eineinhalb Millionen Köpfen – oder wie viele es inzwischen sein mögen – vor den Fernsehern einnisten wird.
Marius und sein Studiogast, der Leiter von Hamburgs wichtigstem Kriminalkommissariat, der in diesem Moment nicht allein die Ermittlungsakten öffnet, sondern weit mehr als das.
Seine Seele.
«Weil ich selbst in dieser Ermittlung weit befangener bin, als Hannah Friedrichs es jemals sein könnte», sagt er leise.
«Hannah?», spricht er mich plötzlich direkt an.
Der Klang seiner Stimme in diesem Moment verursacht mir Gänsehaut auf den Armen.
«Ja?», flüstere
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