Oelspur
jemals gesehen habe, und einen Herzschlag lang bedauerte ich, dass ich Gunnars Gewehr im Kofferraum gelassen hatte. Dann drehte ich mich einfach um und verließ unter erneutem Glockenspiel den Laden. Jetzt erkannte ich auch die Musik. Es war die Titelmelodie aus dem Film Der dritte Mann. Die Absolventen der weltweit bekannten Glockenspielerschule von Mechelen schreckten offenbar vor nichts zurück.
Ich ging zum Auto und befestigte das Gerät mit dem Saugnapf innen an der Windschutzscheibe des Opels. Es war ein Tomtom One, das wahrscheinlich am einfachsten zu bedienende Navigationsgerät, das für Geld zu haben ist. Ich schaltete es ein, wartete, bis die Satellitenverbindung stand, und öffnete durch Antippen des Displays das Hauptmenü. Im folgenden Fenster erschienen die Icons »Heimatort«, »Favoriten«, »Adresse«, »Letzte Ziele« und »Ort von Interesse«. Ich tippte auf »Heimatort« und fand meine Position auf dem Grote Markt. Alle anderen Icons reagierten nicht. Offenbar war nicht vorgesehen, dass ich etwas eingab. In das Navigationsgerät war eine am PC ausgearbeitete Route eingelesen worden. Als der Blinkimpuls kam und die freundliche Frauenstimme ertönte, fuhr ich los.
Das Gerät führte mich nach Westen aus Mechelen hinaus, zunächst Richtung Willebroek, dann weiter auf die Autobahn. Nach etwa zehn Kilometern fuhr ich bei Bornem von der Autobahn ab und fand mich etwa zwei Kilometer später auf einer schmalen Landstraße in einer flandrischen Bilderbuchlandschaft wieder. Die immer schmaler werdende Straße führte durch Senken voll Wasser, Weiden und kräuterreichen Wiesen, und ich wusste jetzt, wo ich war. Es war die Auenlandschaft der »Alten Scheide«. Bevor die vom Fuß der Ardennen durch Belgien strömende Scheide den Hafen Antwerpens erreicht, gelangt sie nach Weert. Zwischen diesem Dorf und dem abseits liegenden Bornem liegt ein toter Arm ihres Wasserlaufs: die »Oude Scheide«. Schnurgerade Kanäle, gesäumt von riesigen Pappeln, durchzogen Wiesen, auf denen Schafe und Rinder grasten. Die Banndeiche waren mit kniehohen Kräutern bewachsen, und im Ried war hier und da ein Kranich zu sehen. Die nahe liegende Großstadt Antwerpen schien Lichtjahre entfernt zu sein, und die ganze Landschaft verbreitete eine Aura von zeitloser Friedfertigkeit und Stille.
Vor einem größeren Wäldchen verwandelte sich die offenbar nur für landwirtschaftliche Nutzfahrzeuge angelegte Straße in einen holprig-matschigen Feldweg, der dem Astra schwer zu schaffen machte, aber das Signal des Navigationsgerätes wies unbeirrt geradeaus. Dann, nach vielleicht einem halben Kilometer, sah ich das Haus. Es war eine alte, nicht sehr große Bauernkate, die sich tief in eine feuchte Bodensenke duckte und erst im letzten Augenblick zu sehen gewesen war. Das Pappelwäldchen hatte sich im Laufe der Jahre bis nahe an die Hauswände herangearbeitet. Nach Westen hin lichteten sich die Bäume und gaben den Blick auf einen Kanal frei. Hinter dem Haus war ein kleiner Schuppen. Das ganze Anwesen sah leer und unbewohnt, aber eigentlich nicht verwahrlost aus.
Ich stellte den Motor ab und wartete. Dass jemand zu Fuß hier herausgekommen war, schien mir sehr unwahrscheinlich, und ein Auto hätte ich sehen müssen. Der Platz vor dem Haus war leer, und hinter dem Schuppen begann der Wald. Was war mit einem Motorrad? Es konnte jemand im Haus sein, der mit einem Motorrad gekommen war, das jetzt im Schuppen versteckt war. Ich wusste nicht, was ich tun sollte, aber ich hatte keine Angst. Ich ließ die Scheiben herunter und lauschte dem Vogelgezwitscher um mich herum, das augenblicklich verstummte, als ich kräftig auf die Hupe drückte.
Dann war ich es leid. Ich stieg aus, schlug einen kleinen Bogen und ging zum Schuppen. Die Tür stand einen Spalt auf. Ich trat dagegen und sah hinein.
Kein Motorrad.
Gerümpel. Morsche Leitern, eine rostige Sense, ein vorsintflutlicher Grill und alte Petroleumlampen. Spinnweben und ein schwerer modriger Geruch. Ich registrierte ein Scharren und Zischeln, und gleich darauf schoss eine Ratte von der Größe eines kleinen Kaninchens aus dem Türspalt und verschwand im Gras.
Ich ging zum Haus und schaute durch das Fenster in den Wohnraum. Er war leer, und ich war mir jetzt ziemlich sicher, dass niemand außer mir hier war. Die Haustür war nicht abgeschlossen. Also ging ich hinein und schaute mich um. Neben dem Hauptraum gab es noch zwei kleinere Räume, die wohl als Küche und Schlafzimmer gedient hatten. Ein
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