Oelspur
wissen nicht, dass ich es weiß.«
Anna schien wie erstarrt. Sie hatte ihre eine Hand in das Betttuch gekrallt und zog sich dann mit der anderen in einer unbewussten Bewegung die Kapuze ihres Sweatshirts über den Kopf. In ihren Augen glitzerten Tränen wie Bergkristalle. Mein Kopf dröhnte wie ein defekter Basslautsprecher. Dann erzählte ich ihr von Villanis Verhör.
Sechsunddreißig
W
ir blieben sieben Tage in dem Hotel, und die ersten drei davon verbrachte ich im Bett. Anna drängte darauf, meinen Kopf von einem Arzt untersuchen zu lassen, aber ich wollte nichts davon wissen. Natürlich hätte ich gerne eine MRT gehabt, um alle denkbaren Risiken auszuschließen, aber was sollte ich einem Arzt über die Entstehung der Kopfverletzung erzählen? Der Gedanke, mich bei einem belgischen Neurologen in einer komplizierten Lügengeschichte zu verheddern, gefiel mir ganz und gar nicht, und schließlich gab Anna nach. Ich schlief die meiste Zeit, ließ mir das Essen aufs Zimmer bringen und ging jedem Streit mit ihr aus dem Weg. Am vierten Tag waren die Kopfschmerzen und die Übelkeit deutlich weniger, und ich war einigermaßen optimistisch, mit einer mittelprächtigen Gehirnerschütterung davongekommen zu sein.
Während ich schlief, streunte Anna durch Antwerpen. Sie war fasziniert von den zahllosen verwinkelten kleinen Gassen mit ihren gemütlichen Cafés und Kneipen und dem immensen Angebot unterschiedlicher Biersorten. Stundenlang wanderte sie im Hafen herum, und am dritten Tag erzählte sie mir von ihrem Besuch im Diamantenviertel (direkt hinter der Pelikaanstraat beginnt eine belgische Version von Jerusalem: Männer mit langen Bärten und Korkenzieherlocken, koscheres Essen und jede Menge Klunker). Ansonsten versuchte sie, wie sie es ausdrückte, einfach in Bewegung zu bleiben. Sie hatte bei einer Hertz-Filiale den Opel Astra gegen einen unauffälligen kleinen Peugeot mit belgischem Kennzeichen getauscht und mithilfe eines Wörterbuchs mehrere Tage lang alle Zeitungen aus Antwerpen und Umgebung durchforstet, um herauszubekommen, ob ein Lexus mit zwei Leichen im Kofferraum aufgetaucht war.
»Was ›zwei tote Männer‹ auf Holländisch heißt, habe ich nachgeschlagen, und den Rest reim ich mir zusammen.«
Aber es gab keine Meldung, und ganz allmählich ließ die Anspannung etwas nach.
Nachdem ich Anna am Tag unserer Ankunft von meinem Gespräch mit Villani erzählt hatte, war sie wütend und deprimiert gewesen, aber es hatte an ihrer Einstellung nichts geändert.
»Es macht keinen Unterschied mehr. Okay, der Mann heißt Morisaitte und arbeitet für International Maritime Solid Solutions. Eine mächtige Firma, wie Helen und wir feststellen mussten. Du weißt noch nicht einmal, wie er aussieht, und beweisen können wir überhaupt nichts. Wahrscheinlich ist auch der Name falsch. Finde dich damit ab, dass wir verloren haben!«
»Vielleicht ist es nicht sein richtiger Name, aber es ist der Name, unter dem er dort arbeitet. Villani hatte keine Chance, sich eine Lüge auszudenken.«
»Na, und? Wir haben nicht den geringsten Beweis!«
»Wir reden aneinander vorbei. Ich will überhaupt nichts mehr beweisen. Ich will, dass er dafür bezahlt.«
Damit war es raus. Wenn gar nichts mehr geht, versuch’s mal mit der Wahrheit. Anna hatte mich ungläubig angestarrt. Ihre rechte Hand, unterwegs in Richtung Mund, um an den Nägeln zu knabbern, war auf halbem Weg in der Luft stehen geblieben.
»Was immer du genommen hast – ich will nichts davon haben!«
Mit dieser, wie ich fand, geschmacklosen Bemerkung hatte sie das Thema abgewürgt und sich auf den ersten ihrer langen Spaziergänge gemacht, dem in den sieben Tagen etliche weitere folgen sollten.
Am Nachmittag des fünften Tages gingen wir zusammen in ein kleines Café am St. Jansplein und sprachen – wie Anna es ausdrückte – über unsere Zukunft. Oder was davon noch übrig war.
»Du hast einen Menschen getötet«, begann sie vorsichtig.
»Ja, und es sieht irgendwie so aus, als ob ich damit durchkomme.«
»Ist das alles, was dich dabei beschäftigt?«
»Was willst du hören? Dass es mir leid tut? Ja, es tut mir leid, aber nicht so leid, wie es mir tut, dass Helen tot ist!«
Anna war blass geworden und schwieg betroffen. Dann schüttelte sie trotzig den Kopf.
»Was machst du jetzt? Nach München zurückkehren und hoffen, dass Geldorf dich in Ruhe lässt? Oder mit dem Geld untertauchen und ausprobieren, wie weit man mit zwei Millionen kommt? Was wird aus
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