Offenbarung
zuvor. »Ich
glaube nicht.«
»Sie haben Recht. Wissen Sie, woran Sie das
erkennen?«
»Es liegt doch auf der Hand«, sagte sie.
»Aber nicht für jeden. Wenn ich auf Befehl lächle
– wie gerade eben –, benutze ich nur einen Muskel in meinem
Gesicht: den zygomaticus major. Lächle ich dagegen
spontan – was zugegebenermaßen nicht oft vorkommt –,
dann bewege ich nicht nur den zygomaticus major, sondern
spanne auch den orbikularis oculi, pars lateralis an.«
Grelier zeigte mit einem Finger auf seine Schläfe. »Das ist
der Ringmuskel, der das Auge umgibt. Die meisten von uns können
ihn nicht willkürlich anspannen. Ich kann es jedenfalls nicht.
Andererseits können die meisten von uns auch nicht verhindern,
dass er sich anspannt, wenn wir uns aufrichtig freuen.« Er
lächelte wieder. Der Fahrstuhl wurde langsamer. »Viele
Menschen sehen den Unterschied nicht. Wenn sie ihn wahrnehmen, dann
nur im Unterbewusstsein, und dann geht die Information in der Masse
anderer sensorischer Eingaben unter. Die kritischen Daten werden
ignoriert. Aber Ihnen schreien diese Dinge geradezu ins Gesicht. Sie
schmettern wie Trompeten. Sie sind unfähig, sie zu
ignorieren.«
»Jetzt weiß ich wieder, wer Sie sind«, sagte
Rachmika.
»Ich war dabei, als Ihr Bruder sich in der Kathedrale
vorstellte, richtig. Sie haben ein Riesentheater gemacht, als man ihn
anlog.«
»Man hat ihn also belogen.«
»Das haben Sie doch immer gewusst.«
Sie sah ihm fest ins Gesicht, achtete auf jede Nuance.
»Wissen Sie, was aus Harbin geworden ist?«
»Ja«, antwortete er.
Der Gitterkäfig kam ratternd zum Stehen.
Grelier führte sie in das Turmzimmer des Dekans. Der
sechseckige Raum war voll mit Spiegeln, die ihr eigenes
überraschtes Gesicht – fragmentiert wie ein kubistisches
Porträt – von allen Seiten zu ihr zurückwarfen. In dem
Wirrwarr von Spiegelbildern bemerkte sie den Dekan nicht sofort.
Dafür sah sie Helas weißen, gewölbten Horizont vor
den Fenstern und wurde wieder einmal daran erinnert, wie klein ihre
Welt war, und sie sah die Rüstung – den seltsamen, roh
zusammengeschweißten Raumanzug –, die sie vom Emblem der
Adventisten kannte. Schon wenn sie den Anzug nur ansah, bekam sie
eine Gänsehaut. Er verströmte Unheil, unsichtbare Wellen
des Bösen, die den ganzen Raum überfluteten. Der Eherne
Panzer war eine so mächtige Präsenz, als wäre er ein
lebendiger Gast im Turmzimmer.
Rachmika ging daran vorbei. Als sie näher kam, wurde das
Gefühl des Bösen deutlich stärker, es durchdrang ihr
Gehirn wie mit geheimen Strahlen und tastete sich in die privaten
Nischen ihres Denkens vor. Es sah ihr gar nicht ähnlich, so
irrational auf etwas so offensichtlich Unbelebtes zu reagieren, aber
der Panzer hatte zweifellos eine ungeheuere Macht. Vielleicht verbarg
sich in seinem Innern ein Mechanismus, der Unruhe erzeugte. Sie hatte
von solchen Instrumenten schon gehört. In festgefahrenen
Verhandlungen konnten sie die Entscheidung herbeiführen, indem
sie durch Reizung der entsprechenden Hirnbereiche Angst
auslösten und die Gegenwart unsichtbarer Wesen vorgaukelten.
Sobald Rachmika glaubte, sich die Wirkung des Panzers
erklären zu können, belastete er sie nicht mehr so sehr.
Dennoch war sie froh, als sie die andere Seite des Turmzimmers
erreichte und freien Blick auf den Dekan hatte. Im ersten Augenblick
hielt sie ihn für tot. Er lag zurückgelehnt in seinem Stuhl
und hielt unter der Decke die Hände über der Brust
gefaltet, als hätte man ihn aufgebahrt. Doch dann bewegte sich
die Brust. Und die Augen – mit den künstlich gespreizten
Lidern – waren unheimlich lebendig und zitterten in ihren
Höhlen wie kleine warme Eier kurz vor dem Schlüpfen.
»Miss Els«, sagte der Dekan. »Ich hoffe, Sie hatten
eine angenehme Reise.«
Er war es tatsächlich. Sie konnte es kaum fassen. »Dekan
Quaiche«, sagte sie. »Ich hörte… ich
dachte…«
»Ich sei längst tot?«, krächzte er. Es klang,
als riebe ein Insekt hektisch seine Chitinflächen aneinander.
»Ich habe aus meiner Existenz nie ein Geheimnis gemacht, Miss
Els… all die Jahre nicht. Ich zeige mich regelmäßig
der Gemeinde.«
»Die Gerüchte sind nicht unverständlich«,
sagte Grelier. Der Generalmedikus hatte einen Medizinschrank an der
Wand geöffnet und machte sich darin zu schaffen. »Sie
zeigen sich niemals außerhalb der Morwenna, woher soll
also der Rest der Bevölkerung wissen, dass Sie noch
leben?«
»Reisen fällt mir schwer.« Quaiche zeigte auf
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