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Offenbarung

Offenbarung

Titel: Offenbarung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alastair Reynolds
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nicht gut an. »Das will ich sehen«,
sagte Scorpio.
     
    Vorher besuchte ihn noch Aura. Sie kam mit ihrer Mutter in den
Kälteschlafraum. Der Schock hätte Scorpio fast umgeworfen.
Er wollte nicht glauben, dass sie es war, aber die goldbraunen Augen
waren unverwechselbar. Mit ihren eingebetteten Metallspänen
schillerten sie in allen Regenbogenfarben wie ein Ölfilm auf dem
Wasser.
    »Hallo«, sagte Aura. Sie hielt die Hand ihrer Mutter und
reichte Khouri bis zur Hüfte. »Sie haben gesagt, sie wollen
dich aufwecken, Scorpio. Wie geht es dir?«
    »Recht gut«, antwortete er. Weiter wollte er nicht
gehen. »Es war immer ein Risiko, in dieses Ding hier zu
steigen.« Die Untertreibung des Jahrhunderts, dachte er.
»Wie geht es dir, Aura?«
    »Ich bin sechs«, sagte sie.
    Khouri fasste die Hand ihrer Tochter fester. »Sie hat einen
ihrer Kindertage, Scorp, dann benimmt sie sich mehr oder weniger so,
wie es für eine Sechsjährige angemessen wäre. Aber sie
ist nicht immer so. Ich wollte dich nur darauf vorbereiten.«
    Er betrachtete die beiden. Khouri war etwas, aber nicht dramatisch
gealtert. Die Linien ihres Gesichts waren ausgeprägter, als
hätte ein Künstler eine Weichzeichnung von einem
Frauengesicht genommen und mit scharfem Stift liebevoll jede Furche
und jede Hautfalte nachgefahren. Sie hatte sich das Haar schulterlang
wachsen lassen, trug es seitlich gescheitelt und hielt es mit einer
kleinen ambrafarbenen Spange zurück. Inzwischen zeigten sich
weiße und silbergraue Strähnen darin, die aber die
Schwärze nur noch betonten. Am Hals warf die Haut Falten, an die
er sich nicht erinnerte, und die Hände wirkten irgendwie schmale
und anatomischer geformt.
    Aber sie war immer noch Khouri, und hätte er nicht gewusst,
dass sechs Jahre vergangen waren, er hätte die
Veränderungen vielleicht gar nicht bemerkt.
    Mutter und Tochter waren weiß gekleidet. Khouri trug einen
bodenlangen Rüschenrock, eine weiße Jacke mit runden
Halsausschnitt und darunter eine Bluse mit tiefem Dekolletee, ihre
Tochter einen knielangen Rock über weißen Strumpfhosen und
ein schlichtes Hemd mit langen Ärmeln. Auras schwarzes Haar war
knabenhaft kurz geschnitten, der Pony bildete eine gerade Linie
über ihren Augen. Wie zwei Engel standen sie vor ihm, zu rein,
um Teil des Schiffes zu sein, wie er es kannte. Aber vielleicht hatte
sich auch das Schiff verändert. Immerhin waren sechs Jahre
vergangen.
    »Ist dir noch etwas eingefallen?«, fragte er Aura.
    »Ich bin sechs«, sagte sie. »Soll ich dir das
Schiff zeigen?«
    Er lächelte. Hoffentlich erschreckte er das Kind nicht.
»Das wäre schön. Aber jemand hat gesagt, ich muss mich
erst um etwas anderes kümmern.«
    »Was hat man dir gesagt?«, fragte Khouri.
    »Es sähe nicht gut aus.«
    »Die Untertreibung des Jahrhunderts«, gab sie
zurück.
     
    Valensin ließ ihn nicht aus dem Kälteschlafraum, ohne
ihn gründlich untersucht zu haben. Der Doktor zwang ihn, sich
auf einer Liege auszustrecken, und setzte die stummen grünen
Medizin-Servomaten auf ihn an. Die Maschinen machten sich mit
Scannern und Sonden über seinen Unterleib her, während
Valensin ihm die Lider zurückzog und ihm mit einem Migräne
auslösenden Licht in die Augen leuchtete. Dabei schnalzte er mit
der Zunge, als hätte er etwas Unappetitliches entdeckt.
    »Ich habe sechs Jahre lang geschlafen«, beklagte sich
Scorpio. »Hatten Sie da nicht Zeit genug für Ihre
Untersuchungen gehabt?«
    »Was Sie umbringt, ist die Reanimation«, sagte Valensin
forsch. »Und die Zeit unmittelbar danach. Wenn man bedenkt, wie
alt der Tank ist, aus dem Sie eben herausgeholt wurden, und die
unvermeidlichen Idiosynkrasien Ihrer Anatomie dazurechnet, dann gebe
ich Ihnen höchstens eine Chance von fünfundneunzig Prozent,
die nächste Stunde zu überleben.«
    »Ich fühle mich gut.«
    »Wenn das stimmt, sind Sie zu bewundern.« Valensin hob
die Hand und fuhr Scorpio mit den Fingern vor dem Gesicht herum.
»Wie viele?«
    »Drei?«
    »Jetzt?«
    »Zwei.«
    »Und jetzt?«
    »Drei.«
    »Und jetzt?«
    »Drei. Zwei. Was soll das Ganze?«
    »Ich muss noch genauere Tests durchführen, aber es sieht
so aus, als hätte sich Ihr peripheres Sehvermögen um zehn
bis fünfzehn Prozent verschlechtert.« Valensin
lächelte, als hätte Scorpio genau das gebraucht: einen
letzten Anstoß, um ihn von der Liege zu holen und federnden
Schrittes davoneilen zu lassen.
    »Ich komme eben aus dem Kälteschlaf. Was haben Sie denn
erwartet?«
    »Mehr oder weniger das,

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