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Offenbarung

Offenbarung

Titel: Offenbarung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alastair Reynolds
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und dieses Leck
konnte er mit seiner Atemfrequenz nicht beeinflussen. Selbst wenn er
in den nächsten zwei Stunden nur ein einziges Mal Luft holte,
wäre für den nächsten Atemzug nichts mehr übrig.
Nicht der Sauerstoffverbrauch war sein Problem, sondern die undichte
Stelle. In zwei Stunden würde er hartes Vakuum von einer
Qualität einsaugen, für die manche Leute gutes Geld
bezahlten. Angeblich war es in den ersten Sekunden ziemlich
schmerzhaft. Aber er würde ja allmählich
hinübergleiten und schon lange vorher bewusstlos, wenn nicht
sogar tot sein. Irgendwann in den nächsten neunzig Minuten.
    Trotzdem wäre es wahrscheinlich nicht schlecht, nicht durchzudrehen. Je nachdem, wie das Leck beschaffen war,
könnte er damit sogar etwas gewinnen. Wenn die Luft erst auf dem
Weg durch das Wiederaufbereitungssystem verloren ging, wäre es
sicherlich von Vorteil, sie möglichst langsam zu verbrauchen.
Solange er nicht wusste, wo der Riss war, konnte er ruhig davon
ausgehen, dass die Panik sich auf seine Lebenserwartung auswirkte.
Die zwei Stunden könnten sich auf drei… und mit viel
Glück auch auf vier Stunden strecken lassen, wenn er einen
leichten Hirnschaden in Kauf nahm. Und aus vier Stunden könnten
am Ende sogar fünf werden.
    Warum machte er sich etwas vor? Ihm blieben zwei Stunden.
Zweieinhalb im günstigsten Fall. Du kannst durchdrehen, so
viel du willst, sagte er sich. Es macht nicht den
geringsten Unterschied.
    Das Virus witterte seine Angst, stürzte sich darauf und
verschlang sie. Bisher hatte es vor sich hin geköchelt, doch
während er noch mit der Panik kämpfte, wallte es auf und
ertränkte jeden vernünftigen Gedanken.
    »Nein«, sagte Quaiche. »Ich kann dich jetzt nicht
gebrauchen.«
    Wieso eigentlich nicht? Was nützte ihm seine Vernunft, wenn
er doch nicht mehr zu retten war? Das Virus gäbe ihm wenigstens
die Illusion, in Gegenwart eines höheren Wesens zu sterben, das
ihn liebte und über ihn wachte, während er immer
schwächer wurde.
    Dem Virus war es egal. Es würde ihn mit Gottesgegenwart
überfluten, ob er wollte oder nicht. Außer seinen
Atemzügen und dem Prasseln der Eisbrocken, die er beim Sturz von
den Wänden der Spalte gerissen hatte und die immer noch auf die
Fähre herabregneten, war nichts zu hören. Außer der
Brücke war nichts zu sehen. Doch nun drangen ferne
Orgelklänge durch die Stille. Noch waren sie leise, aber sie
kamen näher, sie würden anschwellen, und wenn sie den
Höhepunkt erreichten, würden sie seine Seele mit Ehrfurcht
und Glückseligkeit erfüllen. Die Brücke hatte sich
kaum verändert, doch nun entstanden dahinter am schwarzen Himmel
prachtvolle Glasbilder. Quadrate, Rechtecke und Rauten aus
pastellfarbenem Licht strahlten durch die Dunkelheit wie Fenster in
eine größere, glorreichere Welt.
    »Nein«, sagte Quaiche, aber diesmal ohne
Überzeugung.
     
    Eine Stunde verging. Systeme versagten den Dienst. Immer mehr rote
Anzeigen auf der Konsole erloschen. Was jetzt ausfiel, konnte
Quaiches Überlebenschancen nicht mehr verschlechtern. Das Schiff
würde ihn nicht von seinem Leid erlösen, indem es
explodierte, auch wenn das ein schneller, schmerzloser Tod gewesen
wäre. Nein, dachte Quaiche: Die Räubertochter würde alles in ihrer Macht Stehende tun, um ihn bis zum
letzten mühsamen Atemzug am Leben zu erhalten. Ein sinnloses
Unterfangen, aber das konnte die Maschine nicht begreifen. Sie
sendete auch immer noch das Notsignal aus, obwohl er schon zwei bis
drei Stunden tot sein würde, wenn die Dominatrix es
endlich empfangen konnte.
    Er lachte: Galgenhumor. Er hatte die Tochter immer für
eine überaus intelligente Maschine gehalten. Verglichen mit den
meisten Raumschiffen – auf jeden Fall mit jedem Schiff, das
nicht mindestens von einer Gamma-Persönlichkeit gesteuert wurde
– war sie das wohl auch tatsächlich. Aber wenn es um die
elementaren Dinge ging, war sie doch etwas unterbelichtet.
    »Nicht böse sein, Schiff«, entschuldigte er sich.
Dann lachte er wieder. Doch diesmal ging das Lachen in krampfhaftes
Schluchzen über.
    Das Virus war keine Hilfe. Er hatte sich mehr erwartet, aber die
Gefühle, die es erzeugte, waren zu oberflächlich. So
dringend er ihren Beistand gebraucht hätte, sie waren nur
papierdünne Fassaden. Das Virus reizte zwar die Teile seines
Gehirns, die für religiöse Erlebnisse zuständig waren,
doch es konnte andere Bereiche, die solche Erlebnisse als
künstlich erkannten, nicht einfach abschalten. Er spürte
die Präsenz

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