Ohne Gnade
Millers Bruder. Ich habe ihn neulich bei einer Party getroffen. Er erzählte mir ausführlich von Ihnen.«
»Wundert mich, daß er in Gesellschaft von mir spricht.«
Sie nahm eine Zigarette aus der Dose, und er gab ihr Feuer.
»Jetzt sind Sie also Kriminalsergeant?« Sie schüttelte den Kopf. »Und überall, wo ich hinkomme, sehe ich ein neues Geschäft von Phil. Unbegreiflich. Warum arbeiten Sie nicht bei ihm?«
»Phil hat Talent zum Geldverdienen.« Nick lächelte. »Mich zieht es zu anderen Dingen. Außerdem bin ich stiller Teilhaber.«
»Ist das nicht verboten? Bei einem Polizeibeamten, meine ich.«
»Davon wird nicht gesprochen.« Er warf seine Zigarette ins Feuer. »Seit zwei oder drei Stunden versuche ich vergeblich, Ben zu finden. Er ist hier in der Stadt, aber mehr habe ich nicht herausbringen können.«
»Ben?« sagte sie argwöhnisch. Ihr Lächeln verschwand. »Wovon reden Sie eigentlich?«
»Ihre Schwester war heute abend bei uns. Sie sagte, Ben habe Ihnen geschrieben und wolle Sie aufsuchen. Sie bat uns, ihn aufzustöbern und ihm klarzumachen, daß er Sie nicht belästigen soll.«
»Warum kümmert sie sich nicht um ihre eigenen Angelegenheiten?« sagte Bella zornig.
»Ich habe nicht mit ihr gesprochen«, erwiderte Nick. »Sie scheint sich aber Sorgen um Sie zu machen. Offenbar hat sie Angst, daß etwas Schlimmes passieren könnte, wenn Ben auftaucht.«
»Sie macht sich wohl eher Sorgen um sich und ihre kostbare Schule«, brauste Bella auf. »Nein, das ist ungerecht. Sie sorgt sich um mich – das hat sie immer getan.« Sie schüttelte lächelnd den Kopf. »Verrückt, wenn man es sich recht überlegt. Sie ist fünf Jahre jünger als ich, aber das Denken für uns beide hat sie von Anfang an übernommen.«
»Kann ich den Brief sehen?«
»Ich habe ihn im Schlafzimmer. Es dauert nur eine Sekunde.«
Sie ging zu einer Tür, öffnete sie und betrat das Nebenzimmer. Nick sah ein luxuriöses Schlafzimmer in Rot und Gold mit einem großen Himmelbett. Sie öffnete eine Schublade und kam mit dem Brief zurück. Es war ein kleines Blatt Papier, wie es in den Gefängnissen ausgegeben wurde, auf Umschlaggröße zusammengefaltet, und trug das Datum von einigen Tagen vorher. Der Text war kurz und sachlich. ›Bis bald – Ben.‹ Selbst der Zensor in der Strafanstalt konnte daran keinen Anstoß genommen haben.
»Wann haben Sie den Brief bekommen?«
»Vorgestern.«
»Ihrem Mann haben Sie ihn nicht gezeigt?«
»Bei seinem Jähzorn?« Sie trommelte ungeduldig mit den Fingern auf die Schreibtischplatte. »Was hätte das für einen Sinn? Vielleicht kommt er gar nicht. Wenn er wirklich auftaucht, dann nur wegen der alten Zeiten. Ben würde mir nie etwas tun.«
»Weshalb machen Sie sich dann Sorgen?«
Sie lachte.
»Die Sorgen scheint sich Jean zu machen. Sie sollten lieber mit ihr sprechen.«
»Gerne.«
»Ich sehe nach, ob ich sie finden kann. Vielleicht ist sie noch in der Küche. Sie half mir vorhin beim Anrichten. Man muß ja auf die Leute so aufpassen.«
Die Tür fiel hinter ihr zu, und Nick trat an den Kamin. Er stellte einen Fuß auf die Messingstange, starrte in die Flammen und dachte an Ben Garvald, als die Tür aufging.
Im Leben geschehen manchmal Dinge, die alles Zukünftige verändern und in neue Bahnen lenken. Nick Miller erlebte einen solchen Augenblick, als er sich umdrehte und Jean Fleming an der Tür stehen sah.
Sie trug hochhackige Schuhe, dunkle Strümpfe und ein einfaches schwarzes Seidenkleid, kaum knielang und mit kurzen Ärmeln. Sie wirkte ganz ruhig, ganz in sich gekehrt, während sie dastand und ihn ansah.
Es war, als warte sie darauf, daß irgend etwas geschehen müsse. Man konnte nicht sagen, daß sie schön war. Das schwarze, kurzgeschnittene Haar verlieh ihr einen jungenhaften Ausdruck, und das blasse Irengesicht verriet vor allem anderen innere Kraft. Trotzdem hatte er in seinem ganzen Leben noch nie eine solche Anziehungskraft gespürt.
»Wir sind uns schon begegnet«, sagte sie.
Er nickte.
»Vor sehr langer Zeit.«
Sie kam auf ihn zu. Als er ihre Hände ergriff, bemerkte er, daß sie zitterte.
»Woran denken Sie?«
»Daß ich Sie jetzt mitnehmen möchte, jetzt gleich, irgendwohin, wo es ruhig ist, daß niemand uns stören kann.«
»Gibt es das?«
»Nur im Traum.«
Sie lachte unsicher, zog die Hände zurück und nahm sich eine Zigarette aus der Dose. Er gab ihr Feuer. Sie lächelte ihn
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