Oksa Pollock. Die Unverhoffte
Gebäude versperrt? Ob sie nun wohl sterben würde? Ja, ganz bestimmt würde sie das, hier in diesem verwüsteten Chemiesaal, fernab von ihren Liebsten. In ein paar Minuten würde alles vorüber sein und sie wäre nur noch ein Häufchen widerlichen verwesenden Fleischs.
Doch diese schaurige Vorstellung half ihr, all ihren Mut noch einmal zusammenzunehmen, sich trotz der fürchterlichen Schmerzen aufzurichten und auf McGraw zu zielen: »ARBORESZENS!«, schrie sie.
Und was sie nun sah, ließ sie mit einem Mal hoffen, dieser Hölle doch noch lebend zu entkommen: Klebrige, dicke gelbe Lianen schlangen sich mit einem entsetzlichen saugenden Geräusch um McGraw und beraubten seine Hände und Beine der Bewegungsfreiheit.
»Ich krieg dich! Warte nur, du …«, brachte er noch heraus, bevor die Lianen ihm den Mund verschlossen.
Warten? Das kam überhaupt nicht infrage! Oksa kletterte auf einen Tisch, der im Chaos des Kampfes an die Wand geschleudert worden war, und stieg von dort mit Müh und Not durch eine der zerborstenen Fensterscheiben auf den Gang hinaus.
»OKSA!«
Gus kam um die Ecke des Gangs, der zum Werkraum führte, und sah seine Freundin blutüberströmt und mit zerrissenen, in Fetzen hängenden Kleidern auf sich zukommen. Durch den Riss in ihrer Hose sah er, dass ihr Knie eine eigenartige grünliche Farbe angenommen hatte. Hinter ihr auf dem Boden lagen überall Glasscherben verstreut und aus den Fenstern zum Chemiesaal drang Qualm. Gus rannte zu seiner Freundin, um sie zu stützen. Sie hatten kaum das Ende des Gangs erreicht, als sie hinter sich einen polternden Krach hörten, gefolgt von einem Schrei, der ihnen das Blut in den Adern gefrieren ließ.
»OKSA, OKSA!«
»Er hat sich befreien können, schnell, wir müssen hier raus!«, schrie Oksa in allergrößter Panik.
Sie rannten, so schnell sie konnten, doch Oksas kläglicher Zustand bremste sie gewaltig, und schon bald tauchte McGraw hinter ihnen auf und führte sein Granuk-Spuck zum Mund.
»Was um Himmels willen ist denn hier los?«
»Madame Crèvecœur!«
Die Geschichts- und Erdkundelehrerin kam gerade um die Ecke.
»Mr McGraw? Was machen Sie denn da?«, rief die junge Frau fassungslos.
»Mischen Sie sich nicht in Dinge, die Sie nichts angehen!«, schleuderte ihr McGraw wutschnaubend entgegen.
Mit einer schier übermenschlichen Anstrengung machte Oksa instinktiv einen letzten Versuch, McGraw aufzuhalten. Sie schickte ihm einen Knock-Bong, der ihn ans entgegengesetzte Ende des Flurs schleuderte. Madame Crèvecœur stieß einen entsetzten Schrei aus.
»Laufen Sie weg, Madame Crèvecœur!«, rief Gus ihr mit einem eindringlichen, verzweifelten Blick zu.
Doch die Ärmste war so verdattert, dass sie wie angewurzelt dastand. Gus blieb keine Zeit mehr. Er packte Oksa am Arm und zog sie in Richtung Ausgang.
Ein ausgeklügelter Plan
P
ierre Bellangers Wagen kam im selben Augenblick schleudernd vor dem Schultor zum Stehen, als die beiden Freunde das Schulhaus verließen. Doch das schwere Eingangstor war verschlossen. Ihr Fluchtweg war versperrt.
»Oksa, du musst dich noch ein letztes Mal anstrengen, wir müssen über diese Mauer, sonst kommen wir hier nicht raus«, keuchte Gus.
Die Anstrengung bestand für Oksa vor allem darin, die furchtbaren Schmerzen und das ungläubige Entsetzen über ihre Verletzung beiseitezuschieben. Sie musste noch einen Vertikalflug schaffen, der um keinen Preis fehlschlagen durfte.
»Gus, stell dich vor mich und halte dich gut an mir fest.«
Gus gehorchte, fasste Oksa um die Taille und drückte sie fest an sich. Kurz darauf hoben sie ab, zunächst nur ein paar Zentimeter, dann schwankend ein Stück weiter, bis der Rand der fast drei Meter hohen Mauer in Reichweite kam. Auf der anderen Seite hatte Pierre bereits magische Vorkehrungen getroffen und durch einen Stromausfall die Straße verdunkelt, damit die beiden Kinder möglichst unauffällig landen konnten. Jeder Zeuge dieser Szene hätte eine zusätzliche Komplikation bedeutet – neugierige Zuschauer waren das Letzte, was sie jetzt gebrauchen konnten.
»Klasse machst du das, Oksa«, redete Gus seiner Freundin zu. Sie hatten jetzt, gefährlich hin und her schaukelnd, die Kante der Mauer erreicht. »Nur noch eine winzige Anstrengung, halte durch!«
Aneinandergeklammert schwebten die beiden auf der anderen Seite der Mauer ebenso chaotisch zu Boden, wie sie drüben emporgestiegen waren. Kaum hatten sie festen Boden unter den Füßen, verließen Oksa endgültig die
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