Oksa Pollock. Die Unverhoffte
immer den Zugang zur Kammer des Umhangs verwehrt. Was ich dir sagen kann, ist, dass der Umhang die höchste Macht verleiht. Eine Macht, die kein anderer als die Huldvolle bekommen kann, nicht einmal durch rohe Gewalt.«
»Aber Ocious hat doch die Macht an sich gerissen!«, rief Oksa erregt.
»Ja, er hat sie an sich gerissen, aber sie war nicht für ihn bestimmt. Und ich fürchte, dass dieser Missbrauch ein gefährliches Ungleichgewicht zur Folge hatte, das möglicherweise zum Untergang Edefias führen wird.«
»Wenn es nicht schon zu spät ist«, sagte Abakum mit finsterer Miene.
»Dann müssen wir handeln! Wir müssen Edefia retten!«, rief Oksa euphorisch.
»Das ist nicht so einfach«, wandte Pavel mutlos ein.
»Aber ich habe doch das Mal!«
»Du bist noch nicht bereit.«
»Du meinst wohl, dass ich eine blutige Anfängerin bin, oder?«, fragte Oksa sofort.
»Nicht in dem Sinn, wie du es meinst«, erwiderte Dragomira gelassen. »Natürlich bist du eine Anfängerin, und es wäre Wahnsinn, wenn wir uns zu früh auf dieses Wagnis einlassen würden. Wir haben keine Ahnung, was uns in Edefia erwartet. Wir haben eine Welt zurückgelassen, in der Mord und Totschlag herrschten. Wer weiß, was daraus geworden ist, wenn Ocious und die Treubrüchigen an der Macht sind!«
Alle schwiegen einen Moment und dachten über Dragomiras Worte nach. Dann hob Oksa den Kopf und sagte: »Na gut. Und wann fange ich mit dieser Ausbildung an?«
Dragomira sah ihre Enkelin dankbar an.
»Seid ihr einverstanden?«, fragte Oksa und wandte sich zu ihren Eltern, die ihr zunickten. »Ihr seid wirklich einverstanden? Ehrlich? Ich fasse es nicht!«
»Wir sind einverstanden, mein Schatz«, antwortete ihr Vater, doch er sah dabei nicht glücklich aus. »Obwohl ich hin- und hergerissen bin, um nicht zu sagen, eigentlich dagegen. Seit deiner Geburt habe ich mich immer vor dem gefürchtet, was jetzt eintritt. Ich kann die Sehnsucht meiner lieben Mutter und all derer, die in Edefia geboren sind, verstehen, aber es wäre mein größter Wunsch gewesen, dich aus dieser Geschichte herauszuhalten. Doch leider bist du die Huldvolle. Du bist der Schlüssel …«
»Oh, Papa, übertreibst du nicht ein ganz kleines bisschen?«
»Nicht im Geringsten«, entgegnete ihr Vater schroff. »Du bist die Unverhoffte. Bleibt mir denn etwas anderes übrig, als mich den Tatsachen zu beugen? Sagen wir mal, ich bin einverstanden, ohne einverstanden zu sein, so ist das. Mein einziger Wunsch ist im Augenblick, dass du lernst, mit deinen Kräften umzugehen und sie vor allem unter Kontrolle zu bekommen. Wenn du dich vernünftig verhältst, wirst du in den nächsten Schulferien zu deinem Großonkel Leomido gehen, um – wie soll ich sagen – dein erstes Praktikum zu machen.«
»Juhu! Oh, danke, vielen Dank! Ihr seid die allerbesten Eltern, die es gibt!«, rief Oksa und fiel erst ihrer Mutter, dann ihrem Vater um den Hals.
»Es ist ein Geburtstag, erfüllt mit Erfolg! Strahlenden Glückwunsch zum Geburtstag, entzückende Enkelin unserer Alten Huldvollen!«, riefen die Plemplems und warfen sich vor Oksa auf den Bauch.
»Ich bin nicht sicher, ob es mir gefällt, die ›Alte Huldvolle‹ genannt zu werden«, sagte Dragomira. »Aber ich glaube, ihr könnt meine liebe Enkelin die ›Junge Huldvolle‹ nennen. Denn das ist sie nun.«
Verdachtsmomente
D
ie Schulferien nahten. Oksa war sehr motiviert von der Aussicht, ihre Ausbildung zur Huldvollen zu beginnen, und gab sich in der Schule große Mühe. Im Unterricht passte sie auf wie ein Luchs, und die Lehrer überschütteten sie mit Lob – außer McGraw, dem es sowieso niemand recht machen konnte. An diesem Morgen bestätigte sich sein schlechter Ruf erneut … McGraw gab ihnen gerade die letzten Mathematikarbeiten zurück und nutzte dabei jede Gelegenheit, seine Giftpfeile abzuschießen. Er machte sich einen großen Spaß daraus!
»Zelda Beck, eine Vier. Offenbar mangelt es dir selbst für die Grundlagen der Geometrie an Verständnis. Fräulein Pollock, eine Eins minus, ganz passabel. Ich wäre nur sehr dankbar, wenn du mir das Entziffern deines unleserlichen Gekrakels ersparen würdest. Gustave Bellanger, eine Zwei. Die Nähe zu Oksa Pollock bekommt dir offensichtlich gut …«
Der einzige Vorteil bei McGraw war, dass niemand von seinen unfreundlichen Bemerkungen verschont blieb. Niemand außer Merlin, der dank seines Interesses für Einstein wie durch ein Wunder den Salven scharfer Kommentare entging.
»Der hat
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