olly - 09 - Die Burg erlebt ihr groesstes Fest
den
Stenografiekurs besuchst, wenn du doch deine eigene Stenografie
verwendest?”
„Die Frage ist berechtigt”, gab Dolly kleinlaut zu. „Ich weiß auch
nicht – es hat sich einfach so ergeben. Aber ich glaube, den anderen
geht es genauso. Jeder erfindet seine eigenen Zeichen. Und
schließlich, was macht es schon aus. Die Hauptsache ist doch, daß ich
es lesen kann!”
„Ja, kannst du es denn lesen?”
„Na klar.”
„Und was heißt das da zum Beispiel?” Susanne blätterte einige
Seiten des Blockes zurück und wies auf eine andere Stelle. „Das da? Eh, ja – ,die Verkaufs – die Verkaufswaren’ nein, ,die
Verkaufszahlen verfliegen’…”
„Verfliegen? Wohin fliegen sie denn?”
„Unsinn – ,verliefen’, nein auch nicht – ,beliefen sich im – im’ –
ach, es ist schon so lange her, ich habe den Text nicht mehr im Kopf”,
sagte Dolly ärgerlich.
„Genau das wollte ich hören. Du schreibst die Texte aus dem
Gedächtnis, deine persönlichen Kürzel’, wie du es nennst, sind nichts
als eine kleine Gedächtnisstütze – und wehe, du kannst dich an den
Text dann nicht mehr erinnern.” Susanne lehnte sich zurück, nahm
ihre Teetasse und schaute Dolly verschmitzt an. „So entsteht dann die absurde Literatur, für die ihr Schriftsteller später Preise bekommt,
weil kein Mensch sie versteht.”
„Spotte nicht. Im Ernst: außer mir braucht das doch niemand lesen
zu können. Schließlich will ich nicht Sekretärin werden und lerne
Steno nur für den Hausgebrauch.” Dolly schenkte sich noch eine
Tasse Tee ein, warf drei Stück Zucker in die Tasse und zerdrückte sie
mit der Spitze des Teelöffels.
„Und wenn du nun nicht Schriftstellerin, sondern Journalistin wirst?
Und du mußt einen berühmten Mann interviewen? Du kannst deinen
Text nicht gleich ins reine schreiben, sondern mußt ihn ein paar Tage
liegenlassen. Was dann?” bohrte Susanne weiter. Dolly zuckte mit den
Achseln.
„Dann schreibst du, statt: ,Der beliebte Star spricht mit
Hochachtung von der Würde, mit der seine schwerkranke Mutter ihr
Los erträgt’ so etwas wie: ,Der beleibte Vogel bringt Hochwürden das
Los, das seine Schwermut lindert’ – was sich natürlich viel
bedeutender anhört”, sagte Susanne lachend.
Wie recht Susanne mit ihrer Mahnung an Dolly hatte, stellte sich
bereits am nächsten Tag heraus.
Fräulein Lindner, die Stenografielehrerin, ließ ihren Blick über die
Köpfe der Schülerinnen gleiten und sagte: „Ich habe den Eindruck
gewonnen, daß einige von Ihnen sich ziemlich weit von dem entfernt
haben, was wir in unseren Stunden durchgenommen haben. Deshalb
möchte ich heute einen Test mit Ihnen veranstalten. Ich werde die
Klasse in zwei Gruppen aufteilen. Jeder Gruppe diktiere ich getrennt
einen Text, den die andere Gruppe nicht hört. Dann vertauschen wir
die Hefte und Gruppe zwei liest das vor, was Gruppe eins geschrieben
hat. Ebenso natürlich umgekehrt.”
„Hört, hört”, tuschelte Susanne.
Dolly drehte die Augen gen Himmel. Aber auch Will, Clarissa und
Anita begannen, innerlich zu flattern.
Fräulein Lindner fing an, die Mädchen in zwei Gruppen aufzuteilen.
Jede zweite mußte aufstehen und aus dem Klassenzimmer gehen. Die
anderen rüsteten sich zum Diktat.
Dolly gehörte zur ersten Gruppe, während Susanne, Will und Clarissa der zweiten angehörten. Hoffentlich muß Susanne meinen Text vorlesen, schoß es Dolly durch den Kopf, sie kennt meine Hieroglyphen wenigstens ein bißchen! Dolly bemühte sich nach Kräften, die Zeichen so zu schreiben, wie sie sie gelernt hatte, aber mit Entsetzen stellte sie fest, daß sie sich an die meisten gar nicht mehr erinnern konnte. Fräulein Lindner diktierte zügig und ließ den Mädchen nicht viel Zeit zum Nachdenken. Dolly blieb gar nichts
anderes übrig, als einfach draufloszuschreiben.
„So, meine Damen, Sie können sich jetzt erholen und die Gruppe
zwei hereinholen.”
Mit einem Seufzer der Erleichterung erhoben sich die Mädchen und
gingen nach draußen. Im Vorbeigehen schnitt Dolly Susanne eine
Grimasse. Hoffentlich hatte sie das Glück, Susannes Text vorlesen zu
müssen, Susanne schrieb wie das Lehrbuch persönlich.
Nach etwa zwanzig Minuten wurden sie wieder hereingerufen. Eine
nach der anderen tauschte ihren Block mit einem Mädchen der
zweiten Gruppe. Dolly blieb übrig.
„Oh, wir haben ja eine ungerade Zahl! Nun das macht nichts”, sagte
Fräulein Lindner. „Geben Sie mir Ihr Heft, Dolly Rieder, ich werde es
vorlesen.”
Dolly war es, als habe ihr
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