Oma ihr klein Häuschen
schöne Frau
war
; sie
ist
es! Die hochliegenden Wangenknochen, die klaren blauen Augen, das schulterlange volle Haar, meinetwegen gefärbt, und der klar geschnittene und trotzdem volle Mund sind wirklich sehr besonders, ich schaue sie gerne an.
«Moin, Christa», grüße ich.
«Moin Sönke», kommt es zurück, ohne ein Anzeichen von Überraschung. «Na? Mit der letzten Fähre zum Einbruch nach Nieblum – das musste ja schiefgehen.»
Es spricht sich doch alles rum auf der Insel.
Als hätte sie mich erwartet, deutet Christa auf den zweiten Stuhl neben sich und dreht sich wieder zum Meer. Ich nehme ihr Angebot an, schaue ebenfalls in die Ferne und halte die Klappe. In meiner Eventagentur hatte tendenziell immer der recht, der am längsten quatschen konnte. Bei Christa ist es umgekehrt. Sie redet nicht viel und mag auch nicht zum Sprechen genötigt werden.
Aus dem Grund habe ich immer das Gefühl, dass sie tief unter meine Oberfläche schauen kann. Oma Imke behauptet, Christa besitze das «zweite Gesicht». «Spökenkieker» werden solche Menschen hier genannt, sie haben den Ruf, Krankheiten heilen oder Warzen besprechen zu können. Nun bin ich weder krank, noch habe ich Warzen, deswegen habe ich es nie ausprobiert. Aber ich könnte sie mal wegen meiner fehlenden Beinhaare fragen, fällt mir plötzlich ein. Oder wegen meiner unklaren Zukunft, vielleicht sieht sie da ja etwas.
Christa schweigt beharrlich, und ich störe sie nicht dabei.Friesen gelten ja in Deutschland ohnehin als notorische Schweiger. «Es dauert, bis man mit ihnen warm wird, aber wenn es dann so weit ist, kann man sich immer auf sie verlassen», behaupten wohlwollende Süddeutsche gern. «Sie reden nicht viel, aber was sie sagen, hat Hand und Fuß.»
Solche Menschen sind natürlich eine Katastrophe für jede Party – Partys leben nun einmal davon, dass man auf andere zugeht, sich auch mal um Kopf und Kragen quatscht und dabei kein Fettnäpfchen auslässt. Genau genommen werden den Friesen dieselben Eigenschaften zugeordnet wie Menschen mit schweren Verhaltens- und Kommunikationsstörungen. Was natürlich vollkommen übertrieben ist, denn wenn es so wäre, würde der Tourismus hier gar nicht funktionieren. Pensionswirte, die einem mit genuscheltem «Moin» den Schlüssel auf den Tresen knallen, kurz die Zimmernummer ansagen und dann wieder im Hinterzimmer verschwinden, würden nicht eine Saison überleben. Nein, in Wirklichkeit freuen sich die Insulaner über Gäste und quasseln und lachen gerne mit ihnen. Allerdings gibt es hier ein Gesetz, das Verfassungsrang besitzt: Wenn du gerade nicht quatschen willst, wird das respektiert. Einfach am Tresen sitzen und nachdenken? Kein Problem. Versuch das mal in Köln oder im Ruhrpott …
«Oma hat es mit dem Herzen?», breche ich nach einer langen Pause das Schweigen.
Christas Blick haftet unbeirrt am Horizont. Auf dem Hindenburgdamm fährt gerade ein weiterer Autozug nach Sylt, fast alle Wagen sind diesmal silbern.
«Im Alter hat doch jeder was.»
Ich schweige erneut so lange wie möglich.
«Und der Motorbootführerschein?», frage ich dann.
Jetzt dreht sie amüsiert den Kopf zu mir, ihre Augen blitzen auf: «Ach ja?»
«Oma und ein Motorboot?»
«Hat ja nicht geklappt.»
Wieder Stille.
«Ik witj ei wann Imke kommt», meldet sich Christa plötzlich auf Friesisch.
Ich weiß nicht, wann Imke kommt.
Ein leichter Windhauch zieht über den Deich und lässt die Grashalme kräuseln.
«Wo ist sie denn?», frage ich ganz direkt.
Sie weiß es.
«Ik swiige stalh», entschuldigt sie sich.
Ich halte die Klappe.
«Ich werde sie trotzdem suchen», drohe ich, «ich muss mit ihr reden.»
«Ja.»
Wieso wissen Omas Freunde, wo sie steckt, wollen es aber keinem aus der Familie sagen?
Immerhin weiß ich jetzt von zwei Seiten, dass offensichtlich nichts Schlimmeres vorgefallen ist, was mich etwas beruhigt. Ich verabschiede mich von Christa und radele wieder zurück. Der Wind hat gedreht, ich habe wieder Gegenwind.
Plötzlich komme ich mir total lächerlich vor.
Ich mache hier einen auf Superdetektiv und suche Oma – aber was passiert, nachdem ich sie gefunden habe? Und mit dem Haus alles geklärt ist? Wenn ich keinen offiziellen Grund mehr habe, noch länger auf der Insel zu bleiben? Dann werde ich der arbeitslose Sönke Naumann sein, ohne Berufsabschluss, mit schwer einzuschätzenden Erfahrungen im Veranstaltungs- und Partybereich.
Ein Nichts.
Ich pette in die Pedale.
Das Rad kommt auf
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