Oneiros: Tödlicher Fluch
Somit hätte auch der MI 6 theoretisch Gelegenheit bekommen, Ort und Zeit von Arctanders Termin mit Bouler in Erfahrung zu bringen. Das machte dieses Treffen so gefährlich.
Vermutlich steht er noch mehr unter Stress als sonst. Ich sollte mich unbedingt ins Thema Narkolepsie einlesen, gleich nachher im Hotel.
Rabih kehrte zu ihm zurück, balancierte zwei Panzerkassetten, die wiederum mit einem Stahlring an einer Kette lagen; wohin die Sicherung führte, sah man nicht. Er stellte die Kästen auf dem Tresen ab, huschte zur Tür und schloss den Laden ab. »Monsieur Laurent, das wird Ihnen gefallen!«
Effektheischend schaltete er eine Leselampe an und richtete sie auf die Schatullen, dann drehte er an den Rädchen für die Zahlenkombination, ließ die dicken Schlösser aufschnappen. »Voilà, Monsieur!«
Die Deckel wurden nacheinander angehoben.
Ein Funkeln und Glitzern flutete den Raum. Unzählige Facetten brachen das Licht der Lampe und streuten es bunt auf die Umgebung, auf den Tresen, auf die Gesichter der Männer, an die Decke, einfach bis in die letzte Ecke. Ali Babas Schatzhöhle hätte nicht mehr leuchten können.
Konstantin betrachtete ehrfurchtsvoll all die Smaragde, Rubine und Diamanten. Er war sicherlich kein Experte, wenn es um den Wert von Edelsteinen ging, aber durch den Umgang mit dem Schmuck von Toten kannte er sich ein bisschen aus. Sollte es sich bei den Steinen nicht um Fälschungen handeln, ging der Wert der beiden Schatullen in die Hunderttausende.
Einfach so. Im Tresor.
»Ist etwas dabei, was Ihnen gefällt?«
»Darf ich wissen, woher die stammen?«
Rabih lachte wieder dröhnend und schlug sich gegen die Brust. »Ich schwöre Ihnen, mein Herr, dass sie legal erworben sind. Monsieur Bouler und ich stellen Ihnen die Zertifikate zur Verfügung.«
»Hm. Schön. Wie teuer?«
Der Marrakschi lächelte wieder sehr orientalisch-geheimnisvoll. »Welchen Ring finden Sie schön, mein Herr?«
»Diesen«, sagte er und zeigte willkürlich auf einen Rubin. Er hatte gehofft, einen Opal zu entdecken, doch diesen Gefallen tat ihm der Zufall nicht.
»Vierzigtausend. Ohne zu feilschen.«
Konstantin hatte vierhundert Dirham und zweihundert Euro in der Tasche. Dass Rabih eine EC - oder VISA -Karte akzeptierte, hielt er für unwahrscheinlich, zumal ihm die Bank niemals die Abbuchung eines solchen Betrags erlaubte.
Abgesehen davon, was soll ich mit einem 40000-Euro-Ring?
»Ah, ich sehe, Sie finden den Ring nicht mehr so schön. Das kann jedem passieren.« Rabih beherrschte das Kunststück, einen finanzschwachen Kunden das Gesicht wahren zu lassen. Er packte die Schatullen mit den Edelsteinen weg, kettenklirrend und klappernd verschwanden sie im Tresor. Dann legte er ein Holzkästchen vor Konstantin ab und öffnete es ohne Brimborium.
Vor ihm erschien eine Auswahl an Ringen, die mehr oder weniger sorgfältig mit Nadeln befestigt auf einem schwarzen Kissen lagen. Sicherlich waren sie von Meistern gefertigt, aber die Edelsteine stellten Splitterchen dar, kaum so groß wie das Auge eines kleinen Insekts.
»Sie sagten, Sie suchen etwas Außergewöhnliches, und ich denke, das wäre etwas für Sie.« Rabih präsentierte einen Silberring mit einem Halbedelstein darin, vermutlich Jade, als wären Rubine, Diamanten und Smaragde ohnehin nichts wert.
»Hm«, machte Konstantin, rieb über den Stein, dann über das angelaufene Silber.
Jedenfalls sind sie alt. Alt und ungepflegt.
Er legte den Ring wieder weg und sah, dass ein Stück des schwarzen Stoffs auf dem Kissen umgeschlagen war. Als er es richten wollte, kam darunter überraschend ein weiteres Schmuckstück zum Vorschein, das aus dem Rahmen fiel: ein mit kunstvollen Schnitzereien versehener weißer Männerring, der aus gealtertem Elfenbein bestand.
Auf dem breiten oberen Stück, das einem Siegelring nachempfunden war, ordneten sich vier Nelken aus Silber kreuzförmig an, wobei die Knospen nach außen wiesen; in ihrem Mittelpunkt saß ein fingernagelgroßer Edelstein, über dem ein dünner Schmutzfilm lag.
»Ach herrje. Das alte Ding«, entschlüpfte es Rabih. »Ein echter Ladenhüter. Ich glaube, wir haben es schon dreimal verkauft, aber es kam immer wieder zu uns zurück.«
Konstantin war abrupt von Aufregung gepackt. Er erinnerte sich an seine Nachforschungen zum Thema Vanitas. Das Elfenbein stand demnach für dauernden Bestand, für das Reine.
Und die Nelke … was war noch mal mit ihr? Sarg! Nein, Nagel. Sie steht für das Leiden, das Jesus am Kreuz
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