Oneiros: Tödlicher Fluch
die Risiken, an die möglichen Schädigungen durch die Behandlung. Die Nadel zum Einbringen der Zellen müsste durch sensible Bereiche ihres Hirns. Was würde sie tun, wenn sie ihre Sprache, ihr Augenlicht oder mehr einbüßte? Sie hatte noch zu viel zu tun, um sich derart einschränken zu lassen. »Keinesfalls.«
»Frau von Windau, wenn die Insomnie in der …«
»Wie lange?«, fuhr sie ihn an und nahm die Arme runter, als wollte sie zu einem Kampf antreten. In ihrem Schädel kribbelte es, elektrische Schläge rasten durch den Verstand, und sie sah den Raum plötzlich greller, wie in einem überbelichteten Film.
»Ich weiß es nicht«, erwiderte er und nahm eine abwehrende Haltung ein. »Sie wissen so gut wie ich, dass Sie kein normaler Fall sind.«
Kristin hatte genug von seinem Geschwafel. »Sagen Sie es mir, Professor«, raunte sie drohend. Ihre braunen Augen blitzten. Schwefelgeschmack lag ihr auf der Zunge, der Magen revoltierte.
»Mehr als ein Jahr werden Sie nicht mehr haben. Ohne den invasiven Eingriff, den ich Ihnen vorgeschlagen habe«, entgegnete er resignierend. »Ich kann nur schätzen, das ist Ihnen bewusst. Mit Stammzellen könnten wir die Umwandlung des Eiweißes sowie die Symptome bei gutem Verlauf um ein weiteres Jahr hinauszögern.«
Kristin sah noch immer alles im Grell-Modus, der Raum war in Weiß getaucht, mit Fehlfarben, viel Violett und einer Prise Hellgrau. »Ich bleibe bei meinem Nein.«
Sie verließ das Büro und eilte durch den Korridor, ging in den Fahrstuhl und fuhr ins Erdgeschoss. Gleich darauf stand sie auf der Straße und eilte zu ihrem Mercedes.
Ein Jahr.
Ihre Ausfälle würden stärker werden. Wie lange durfte sie warten, bis sie in den Cryogentank stieg? Und wem übertrug sie die Obhut für sich und ihren Vater? Eugen war zu jung und zu weit weg.
Kristin schloss den Wagen auf und schwang sich hinein. Sie starrte auf die Armaturen, während sie ein Röhrchen mit Tabletten aus der Jacke nahm und zwei davon schluckte. Gegen den Kopfschmerz, gegen das verfälschte Sehen.
Es gab keinen anderen Weg: Sie musste mit ihrem Ex-Mann sprechen und ihn um einen großen Gefallen bitten.
Dieses Unterfangen würde schwieriger als die Entführung von Clarence, das stand fest. Nicht weil es gefährlicher war, sondern wegen der geringeren Erfolgsaussichten, etwas bei ihm zu erreichen.
Ihre Sicht normalisierte sich allmählich, sie konnte die Fahrt zum Flughafen wagen.
Kristin startete den Mercedes und fuhr los. Sie kam zügig voran, auch wenn ihr das Verkehrsaufkommen stärker schien als sonst. Fast wie in Paris.
Wenigstens war der Zwischenstopp dort keine Zeitverschwendung gewesen. Das Gespräch mit der Aspirantin, die ihnen von einem Arzt aus dem Institut empfohlen worden war, erwies sich als vielversprechend. Die Andeutungen über die Art der Forschung, die sie gegenüber der jungen Professorin namens Rambois machte, waren nicht auf Ablehnung gestoßen, und sie vereinbarten ein weiteres Treffen in Paris. Insgeheim wunderte sich Kristin, dass es so viele Frauen gab, die sich für illegale Forschungen interessierten. Sie hätte gedacht, dass der Mutterinstinkt über die Gewissenlosigkeit siegte.
Das Telefon klingelte, Smyrnikovs Name erschien auf dem Display.
Kristin schaltete die Freisprechanlage an. »Ja, Professor? Ich höre.«
»Hallo, Frau von Windau«, vernahm sie die Stimme des Arztes. »Ich sitze wie versprochen über den Unterlagen der französischen Ärztin. Diese Professorin Rambois.«
»Und?« Kristin bog auf den Zubringer zum Flughafen ab. Dem eindrucksvollen titanfarbenen Mercedes machte man Platz. »Kann man mir ihr etwas anfangen?«
»Die Zeugnisse sind exzellent, ohne Frage. Die Noten in Pathologie und Chirurgie weisen auf eine Pedantin hin, wie wir sie brauchten«, sagte er nachdenklich. »Aber es gibt eine Ungereimtheit, die Sie beim nächsten Treffen überprüfen sollten.«
»Was für eine?«
»Es geht weniger um etwas Medizinisches. Rambois hat angegeben, bei Professor Wischner in Homburg an den Universitätskliniken des Saarlandes in der Experimentellen Chirurgie gearbeitet zu haben. Und das über einen Zeitraum von …«, er blätterte, »… anderthalb Jahren; und anschließend in der experimentellen Neurochirurgie gewesen zu sein. Auch anderthalb Jahre.«
Kristin hatte den Lebenslauf gelesen, doch sie erinnerte sich nicht an die Einzelheiten. »Was hat Sie stutzig gemacht?«
»Ich kenne Wischner. Er war in diesem Zeitraum für ein Jahr in Amerika,
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