Opas Eisberg: Auf Spurensuche durch Grönland (German Edition)
medizinische Vernunft entscheiden, noch bis zu dem ersehnten Zielpunkt weiterzugehen. Am Ziel zeigt die DVD-Dokumentation einen zu Tränen gerührten dürren Menschen, der sich um die eigene Achse dreht und davon berichtet, hier die schönsten und einige der schlimmsten Stunden seines Lebens verbracht zu haben. Zuletzt sagt er: »Ob ich noch mal hierherkomme? Natürlich nicht. Aber ich nehme das mit. Ich nehm’s einfach mit.«
Ein Jahr danach treffen wir einen überraschend munteren Peroni auf der Veranda seiner Herberge. Vielleicht hat ihm die Expedition in die über alles geliebte Einöde unvermutet neue Kraft gegeben. Wir zeigen ihm das Tagebuch und erzählen von unserer Familiengeschichte. Er beglückwünscht uns zu unserer Reise: »Alle reden nur von der Westküste, von der Diskobucht – dabei ist es hier viel schöner.« Zudem hätten wir uns einen ganz besonderen Zeitpunkt ausgesucht: In diesem Jahr sei so viel arktisches Eis in den Buchten und Fjorden wie seit 50 Jahren nicht, er habe keine Erklärung dafür. Allerdings könne es deshalb sein, dass wir nicht alle geplanten Ziele per Boot erreichen können. Beim Abschied zeigt ihm meine Mutter noch ein Foto von Opa im Kajak. »Ach, das wurde direkt dort unten in der Bucht aufgenommen.« Da, wo unsere Zelte stehen.
Wir laufen am Ortsfriedhof mit seinen weißen Holzkreuzen und an Wollgrasstauden vorbei durch das herrliche Blumental am Fluss entlang zum Fuß des Qaqartivakajik, 718 Meter hoch, und damit etwas höher als Ficks Bjerg. Nach oben führt kein Weg, Patrick sucht selbst die Route. Immer wieder macht er kurze Pausen, damit alle mitkommen.
Meine Eltern schlagen sich gut. Ihr Training scheint sich auszuzahlen, sie haben Wanderungen im griechischen Pindos-Gebirge und im italienischen Apennin gemacht, um fit zu werden.
Im Geröllfeld unter dem Gipfel, wo wir immer wieder die Hände zu Hilfe nehmen müssen, lernen wir eine grönländische Besonderheit kennen: Selbst Berge, die nur wenige Hundert Meter hoch sind, können Schwierigkeiten bieten, wie man sie aus den Alpen nur über 2000 Metern kennt, oberhalb der Baumgrenze. An den grönländischen Bergen existiert kaum Vegetation, die das Erdreich zusammenhalten könnte, und nirgends ist ein Pfad auszumachen.
Auch die Schönheit der Ausblicke ist ungewöhnlich angesichts der geringen Höhe. Von unserem ersten Grönlandgipfel sehen wir spektakuläre Bergzähne, Packeisbrocken im Meer und im Westen am Horizont zum ersten Mal – das Inlandeis! Ein weißes Ungetüm, die Oberkante eine gerade Linie, wie mithilfe einer Wasserwaage gezeichnet. Die Illusion einer konturlosen Wand über grauem Fels, in Wirklichkeit ein sanft ansteigender Eishang voller Rinnen und Unebenheiten. Ein Eisklotz, der die Sinne verwirrt. Denn wie weit die Horizontlinie von uns weg ist, ob 30 oder 100 Kilometer, lässt sich beim besten Willen nicht sagen. In den Alpen sind die Ebenen im Tal und die Zacken im Gebirge, bei diesem Blick gen Westen gilt das Gegenteil: Die Eisberge mit ihren Spitzen sind unten, und die flache Ebene überragt den Fels.
Links der Eispanzer, rechts die Bucht von Tasiilaq – mit einer kleinen Drehung des Kopfes können wir Weg und Ziel der Schweizer Expedition betrachten. Irgendwo auf dieser Eismauer hat er gestanden, der Opa, im Juli 1912, und voller neuer Hoffnung auf den Berg geschaut, auf dem wir gerade stehen. Meine Mutter zieht das alte Tagebuch aus seinem transparenten Frischhaltebeutel und beginnt, daraus vorzulesen.
Juni 1912
Westgrönland, Tagebuch Roderich Fick
Es war am 10. oder 11. Juni, als wir von Fox und seiner Besatzung Abschied nahmen. Wir sassen noch einmal in dem gemütlichen kleinen Kajütli zusammen beim Essen, und es war eine feierliche Stimmung. Natürlich wurden auch Reden gehalten, aber ernste. Der Kapitän Stocklund taufte den Platz, an dem Fox lag, Dr. de Quervainhavn und sprach die Hoffnung aus, dass wir unsere grosse Aufgabe jetzt bald glücklich durchführen werden und wieder gesund zu unseren Angehörigen nach Haus kehren werden. Es war ihm aber leicht anzumerken, dass er sich grosse Sorgen über unsere Zukunft machte, und er konnte seine Rührung kaum unterdrücken.
Q. antwortete mit einem Dank für die schöne Zeit auf dem Fox und sagte, dass es jetzt für uns keinen anderen Ausweg mehr aus Quervainshavn gäbe, als nach Osten. Das hiess also: entweder erreichen wir unser Ziel Angmagsalik, oder wir sterben. Die Entscheidung muss in den nächsten 2 Monaten fallen.
Mit
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