Operation Romanow
nicht sagen. Das weißt du sicherlich.«
Während Jakows Blick zu dem Kind und zurück zu ihr wanderte, dachte er über ihre Antwort nach. »Glaub mir bitte, und denk gar nicht daran, Sergej zu fragen«, fuhr sie fort. »Für ihn ist es schon schwer genug, dass er seinen Vater vermisst. Er hat oft über Juri gesprochen. Jetzt weint er immer, wenn sein Name fällt.«
Jakow stand auf und blickte hinunter auf die Straße. Es hörte nicht auf zu regnen. »Eine Revolution ist für alle Menschen schwer. Ohne Opfer und Leid kann sie nicht gewonnen werden.«
»Und welche Opfer bringst du, Leonid? Auf dein Leben scheint sich diese Katastrophe positiv auszuwirken!«
Er schwieg einen Moment, ehe er antwortete. »Niemand entkommt dem Elend des Krieges. Es sei denn, er ist clever genug, um zu fliehen.«
»Was meinst du damit?«
Jakow setzte sich wieder zu ihr an den Tisch. »Juri ist verschwunden. Vermutlich ist er nach Frankreich oder England gegangen. Irgendwohin, wo zaristische Emigranten eine Schulter finden, um sich auszuweinen, oder wo Mörder ihrer Strafe entgehen.«
»Woher weißt du das?«
»Das ist eine logische Schlussfolgerung. Wenn er noch hier wäre, hätte er Kontakt zu dir aufgenommen. Ich kenne Juri. Er ist nicht der Mann, der dich und seinen Sohn in diesem Elend im Stich lassen würde. Welche Differenzen es auch zwischen euch gegeben haben mag, er wird auf jeden Fall irgendwann versuchen, dich aus dieser misslichen Lage zu befreien, und sei es nur Sergej zuliebe. Und sobald er es versucht, wird er mir nicht entkommen. Nicht dieses Mal. Das verspreche ich dir.«
Nina schüttelte den Kopf. »Ich kann nicht glauben, dass Juri das Verbrechen begangen hat, dessen du ihn beschuldigst.«
»Das ist deine Meinung. Der Krieg verändert die Menschen. Er hat dich verändert und ihn auch. Was er mit Stanislaw gemacht hat, hätte ich nicht einmal einem Hund angetan. Außerdem gibt es einen Zeugen.«
»Juri hat Stanislaw geliebt wie einen Bruder. Er hätte ihm niemals etwas zuleide getan. Niemals!«
»Kannst du dir das entsetzliche Bild vorstellen, das ich Tag und Nacht vor Augen habe? Stanislaws lebloser, blutüberströmter Leichnam im Schnee. Mein Gott, er war erst sechzehn! Er war doch noch ein Kind!«
»Um Himmels willen, hör auf, Leonid! Rühre nicht mehr daran und beende diesen Wahnsinn, ehe er dich zerstört!«
Jakow schob den Stuhl hastig zurück und sprang erbost auf. Hass flackerte in seinen Augen auf. »Niemals! Das wird nicht passieren, solange noch ein Funken Leben in mir ist.«
Der Junge regte sich im Schlaf. Er keuchte und hustete, dann schlief er wieder ein.
Nina stand auf. »Du wirst nicht auf mich hören, nicht wahr? Ich vergeude nur meine Zeit. Wenn du sonst nichts zu sagen hast, würde ich dich bitten zu gehen, bevor du meinen Sohn noch aufweckst.«
Jakow griff nach seiner Mütze. »Liebst du Juri noch?«
»Welche Gefühle ich Juri entgegenbringe, geht dich nichts an. Ebenso wenig wie unsere Differenzen. Er und ich waren einst Mann und Frau, und das sind wir nun nicht mehr. Mehr gibt es dazu nicht zu sagen.«
Der Regen peitschte gegen das Fenster. Jakows Blick glitt durch das schäbige Zimmer. Trotz allem hatte er Mitleid.
Nina schwieg, als er auf sie zukam, ihr Gesicht mit den Händen umfasste und sagte: »Sieh mich nicht an, als würdest du mich verachten.«
»Ich habe dich niemals verachtet. Ich habe dich immer gemocht, Leonid. Aber du bist nicht mehr der Mensch, den ich einst kannte. Du warst immer anständig und hattest ein gutes Herz. Jetzt bist du verbittert und gnadenlos. Was hat dich so verändert? Das hat nicht nur mit Stanislaws Tod zu tun. Es steckt mehr dahinter, nicht wahr?«
Jakow hörte ihr zu, ohne etwas zu erwidern.
Als Nina sich umdrehen wollte, zog er sie an sich und presste gierig seinen Mund auf ihren. Sie wehrte sich, stieß ihn weg und verpasste ihm eine Ohrfeige. Seine Unterlippe platzte auf. »Nein, Leonid …!«
Jakow wischte sich das Blut vom Mund und starrte sie mit einem gequälten Lächeln an. »Das beweist nur, was ich immer gewusst habe. Arme können keine hübschen Dinge besitzen.«
»Ich war nie hübsch, Leonid, wenn du das meinst!«
»Du solltest dein Licht nicht unter den Scheffel stellen. Wie oft habe ich nachts meine Augen fest geschlossen und mir vorgestellt, wie es wäre, mit dir verheiratet zu sein. Dich zu lieben und von dir geliebt zu werden … Natürlich hatte ich keine Hoffnung. Jemand wie ich kann niemals davon träumen, jemanden wie
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