Opferlämmer
gelangen, fiel ihm noch die verblüffte Miene des Mannes auf. Es gab dafür wohl zwei mögliche Erklärungen: entweder den Striptease selbst oder die Tatsache, dass Dellray unter der ekelhaften Verkleidung einen leuchtend grünen Velours-Trainingsanzug trug. Wahrscheinlich ein wenig von beidem.
… Siebenundsechzig
»Rodolfo, spannen Sie mich nicht auf die Folter.«
»Es gibt vielleicht bald gute Neuigkeiten, Lincoln. Arturo Diaz’ Leute sind Mr. Uhrmacher nach Gustavo Madero gefolgt. Das ist eine delegación im Norden der Stadt – bei Ihnen würde man sagen Stadtbezirk wie die Bronx. Die Gegend ist ziemlich heruntergekommen, und Arturo glaubt, dass dort die Komplizen des Kerls sitzen.«
»Aber wissen Sie, wo genau er jetzt ist?«
»Die Kollegen glauben es zu wissen. Sie haben den Wagen gefunden, in dem er geflohen ist – sie waren höchstens drei oder vier Minuten hinter ihm, aber der Verkehr war zu dicht, um ihn einzuholen. Mr. Uhrmacher wurde in einem großen Mietshaus unweit des Zentrums der delegación gesehen. Es wird gerade abgeriegelt. Wir werden es von oben bis unten durchsuchen. Ich melde mich bald, wenn ich mehr weiß.«
Rhyme trennte die Verbindung und konnte seine Ungeduld und Befürchtungen nur mit Mühe im Zaum halten. Er würde erst an die Festnahme des Uhrmachers glauben, wenn er mit eigenen Augen sah, wie der Mann hier in New York vor Gericht gestellt wurde.
Das Gespräch mit Kathryn Dance trug nicht dazu bei, ihn zuversichtlicher zu stimmen. Nachdem er ihre Nummer gewählt und sie auf den neuesten Stand gebracht hatte, erwiderte sie nämlich: »Gustavo Madero? Das ist eine lausige Gegend, Lincoln. Ich war mal wegen einer Auslieferung in Mexico City und
bin mit dem Wagen da durchgefahren. Und trotz der beiden bewaffneten Bundesbeamten neben mir war ich heilfroh, dass wir keine Panne hatten. Es ist ein Labyrinth. Man kann sich dort mühelos verstecken. Andererseits wiederum legen die Leute nicht den geringsten Wert auf die Anwesenheit der Polizei. Falls Luna mit einem großen Überfallkommando dort auftaucht, dürften die Einheimischen einen Amerikaner schnell verraten.«
Er versprach, sie auf dem Laufenden zu halten, und unterbrach die Verbindung. Die Erschöpfung und Benommenheit der erlittenen Dysregulation machten sich wieder mal bemerkbar, und Rhyme lehnte den Kopf zurück.
Komm schon, reiß dich zusammen!, spornte er sich an. Er war nicht bereit, von sich selbst weniger als 110 Prozent zu verlangen, genau wie von allen anderen. Aber er fühlte sich diesen Anforderungen derzeit nicht gewachsen, nicht mal annähernd.
Dann blickte er auf und sah Ron Pulaski an einem der Tische. Die Gedanken an den Uhrmacher verblassten. Der junge Beamte bewegte sich ziemlich langsam. Rhyme verfolgte es mit Sorge. Der Schock des Tasers war offenbar relativ stark gewesen.
Und außer Sorge empfand Rhyme noch etwas anderes, schon die ganze letzte Stunde: Schuld. Es war allein sein Fehler gewesen, dass Pulaski – und auch Sachs – durch Galts Falle in der Schule beinahe ihr Leben verloren hätten. Sachs hatte die Sache heruntergespielt. Pulaski ebenso. Lachend hatte er gesagt: »Sie hat mich glatt umgehauen«, was anscheinend witzig sein sollte und Mel Cooper zum Lächeln brachte. Rhyme hingegen war absolut nicht in der Stimmung. Er fühlte sich verwirrt und desorientiert … und das nicht nur als Folge des Anfalls, sondern weil er sich beständig vorwarf, er habe versagt und dadurch Sachs und den Neuling im Stich gelassen.
Er zwang sich, seine Aufmerksamkeit auf die Beweise zu richten, die in der Schule gesichert worden waren. Ein paar Tüten mit Partikeln, etwas Elektronik. Und natürlich der Generator.
Lincoln Rhyme mochte große, sperrige Geräte. Um sie zu bewegen, musste man auf Tuchfühlung gehen, wodurch solche Objekte zahlreiche Fingerabdrücke, Fasern, Haare, Schweißtropfen und Hautzellen sowie weitere Spuren aufnahmen. Der Generator stand zwar auf einem Handwagen; der Umgang mit ihm erforderte aber dennoch einigen Körpereinsatz.
Ron Pulaski erhielt einen Anruf. Er schaute zu Rhyme und ging in die hintere Ecke des Raumes, bevor er das Gespräch annahm. Dann hellte seine Miene sich auf, trotz aller Erschöpfung. Er trennte die Verbindung, blieb einen Moment stehen und sah aus dem Fenster. Obwohl Rhyme den Inhalt des Telefonats nicht kannte, überraschte es ihn nicht, dass der junge Mann dann mit reuigem Antlitz zu ihm kam.
»Ich muss Ihnen etwas gestehen, Lincoln.« Sein Blick bezog auch
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