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Opfermal

Opfermal

Titel: Opfermal Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: G Funaro
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tagsüber immer –, aber der Eingang war frisch, stand immer offen, und jetzt, da andere darin waren, konnte es sein …
    » Edmund?« , ertönte die Frauenstimme wieder. » Bist du da, Edmund?«
    Der General erkannte die Stimme sofort, und sein Herz füllte sich plötzlich mit einer Mischung aus Freude und schrecklicher Angst.
    Still!, rief er im Geiste. Er wird dich hören!
    Edmund, ich habe Angst!
    »Mama, bitte!«, flüsterte der General, und jetzt war er wieder Edmund Lambert.
    Er stürzte in den Raum und stand vor der Gestalt auf dem Thron, sein Blick ging zwischen dem Kopf des Prinzen und den goldenen Türen hin und her, die er für den Körper darunter geschnitzt hatte. Der Geruch nach Schnaps und verwesendem Fleisch war jetzt stärker, aber der Prinz schlief immer noch. Nein, niemand war jetzt hinter dem Eingang, außer …
    »Edmund, es ist so lange her – lass mich dich sehen!«
    »Mama, bitte, du verdirbst …«
    » Du brauchst keine Angst zu haben. Er schläft jetzt. Er ahnt nicht, dass …«
    Still, Mama! , schrie Edmund in Gedanken.
    » Bitte, Edmund. Lass mich dich sehen, wie er dich sieht! Lass mich wissen, dass wirklich du es bist, der mich holen kommt. Ich habe solche Angst!«
    Hauptsache, sie ist still, dachte Edmund – und ohne noch einmal nachzudenken, sah er sich die Hand nach dem Kopf des Prinzen ausstrecken.
    Es war der General, der normalerweise den Kopf des Prinzen trug, der viele Male den Gipsschädel darin entfernt und ihn sich über das Gesicht gestreift hatte – ein Geruch nach Schimmel, Leder, Schweiß und Blut, der ihn an den Helm erinnerte, den Edmund im Irak getragen hatte. Es war heiß im Kopf des Prinzen, und das Atmen fiel schwer. Und obwohl der General ein Loch in die Rückseite des offenstehenden Mundes gemacht hatte, durch das er sehen konnte, hatte er stundenlang durch den Keller streifen müssen, bis er daran gewöhnt war, ihn zu tragen.
    Doch all das war vergeblich gewesen; denn sobald der General den ersten Eingang erwarb, war es, als würde er in eine andere Welt transportiert, wenn er den Kopf des Prinzen trug – eine Welt, in der die Gerüche, die Hitze und die klaustrophobische Enge des Prinzenkopfes nicht existierten. Es gab nur den Eingang und die Welt dahinter. Denn wenn der General den Kopf des Prinzen aufsetzte, sah er durch die Augen der Neun und der Drei – diese allwissenden, alles sehenden Augen des Löwen am Himmel.
    Es war Edmund Lambert gewesen, der den Löwenkopf entdeckt hatte, vor Jahren, als er zwölf gewesen war, in dem Laden des Tierpräparators, zu dem sein Großvater mit ihm gegangen war, nachdem er seinen ersten Hirsch getötet hatte. Schon damals war der kleine Edmund davon fasziniert gewesen – Leo, nannte ihn der Besitzer des Ladens, ein riesiger afrikanischer Löwe, der auf einer Safari in den Dreißigerjahren erschossen worden war. Auch das war eine Botschaft des Prinzen gewesen – ihre erste Begegnung von Angesicht zu Angesicht –, aber der kleine Edmund war schlicht zu dumm gewesen, um sie zu verstehen.
    Aber nachdem Edmund Macbeth gelesen und begriffen hatte, dass er einen Kopf brauchte, um mit dem Prinzen zu kommunizieren, war es der General gewesen, der bei dem Tierpräparator eingebrochen war und Leo in den Thron-Raum gebracht hatte. Und deshalb durfte nur der General den Löwenkopf tragen und nur dann, wenn er dem Prinzen diente.
    Doch jetzt war es Edmund, der sich das Antlitz des Prinzen über das Gesicht streifte; und mit einem Mal fühlte er die Kraft des Prinzen durch seine Muskeln fließen. Es fühlte sich für den General immer wie flüssige Elektrizität an; Edmund Lambert hingegen ließ die Energie, die durch seine Adern strömte, schwach und furchtsam werden – wie ein Kind, das sich in ein Spukhaus schleicht.
    Wuusch! Ein grelles Leuchten, und der Eingang war offen.
    Ja, da war seine Mutter! Klar und strahlend schwebte sie vor den wirbelnden Farben der Sünde. Sie war gekleidet wie an dem Tag, an dem sie starb, sie war zugleich nah und weit entfernt, aber sie rief nicht mehr, sondern fiel nur auf die Knie und weinte vor Freude, als sie ihn sah. Und da war Edmund, einen Finger an den Lippen, während er die andere Hand ausstreckte und ihr Gesicht berührte. Eine heimliche Berührung, die Eile verriet, doch sagte: »Mach dir keine Sorgen, Mama.«
    Zack-zack – ein silberner Blitz wie das Stroboskop im Bauernhaus –, und jetzt war noch jemand bei ihnen, jemand, der seiner Mutter aufhalf und sie zurück

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