Opfermal
Zufällig drehte der Perserkönig Darius – wenn Sie mir das Wortspiel verzeihen – den Spieß im 6. Jahrhundert vor Christus um, als er angeblich dreitausend Babylonier pfählte. Diese babylonische Verbindung stellt für sich genommen schon einen überzeugenden Zusammenhang zu Nergal her. Es war jedoch wiederum unser Mann an der NC State, der den Sack für uns zugemacht hat. Schaap?«
Im Konferenzraum wurde hörbar die Luft angehalten, als das letzte Dia auf dem Schirm erschien.
»Was wir hier sehen«, sagte Markham, »ist das Foto eines antiken Zylindersiegels und seines Abdrucks. In Siegeln wie diesem hier aus dem alten Babylonien war meist eine Art Bildgeschichte eingraviert, und man rollte Reliefs damit in eine weiche Unterlage wie den Ton, den Sie vor sich sehen. Man vermutet, dass dieses Siegel hier etwa zweitausend Jahre vor Christus entstand. Es wurde zusammen mit anderen Artefakten vor etwa einem Monat von italienischen Zollfahndern beschlagnahmt und vermutlich aus einer der vielen unbewachten archäologischen Stätten gestohlen, die die U S -geführten Invasionstruppen zu Beginn des Irak-Kriegs geplündert haben. Auch wenn die anderen Artefakte, mit denen zusammen das Siegel gefunden wurde, aus dem Museum von Bagdad entwendet wurden, wissen die Behörden nicht genau, von welcher Stätte das Siegel stammt – vielleicht von einer unbekannten Stätte irgendwo in der Nähe der Grabung von Tell Ibrahim.
Wenngleich primitiv ausgeführt«, fuhr Markham fort, »ist das Siegel eine verblüffende Entdeckung. Es ist aus Kalkstein und ungewöhnlich groß für diesen Typ von Artefakt, etwa fünf Zentimeter lang und fünf Zentimeter im Durchmesser. Die Darstellung ist beispiellos insofern, als sie offenbar eine Art Opfer zeigt, das dem Gott Nergal gebracht wird. Die Prozession der löwenköpfigen Figuren mit den langen Speeren und den daran baumelnden Menschen sind vermutlich seine Priester, das wild dreinblickende Geschöpf am Ende mit dem Menschenkopf und dem geflügelten Löwenkörper ist Nergal selbst. Relativ wenige Bildnisse von Nergal haben überlebt, was dieses hier zu einer der vielleicht wichtigsten archäologischen Entdeckungen bezüglich des antiken Babylons in den letzten Jahren macht.«
»Außergewöhnlich«, sagte Dr. Underhill. »Eine Vermählung der Löwenmetaphorik mit der Pfählung. Fast eine Gebrauchsanleitung, wie dem Gott zu opfern ist. Und da Nergal der Herrscher der Hölle war, sind die gepfählten Opfer auf dem Siegel vielleicht unerwünschte Personen, Verbrecher oder sogar Ketzer in den Augen des Kults von Kutha.«
»Vielleicht«, sagte Markham, »aber die babylonische Vorstellung der Unterwelt unterschied sich von, sagen wir, der christlichen Vorstellung von der Hölle. Nichtsdestoweniger war es kein hübscher Ort, und höchstwahrscheinlich wird die Idee des Pfählers von der Hölle von zeitgenössischen christlichen Vorstellungen beeinflusst sein sowie von dem Umstand, dass Nergal zu einem von Satans Dämonen mutiert ist.« Big Joe hob erneut die Hand. »Ja, Joe?«
»Wenn Nergal, wie Sie sagen, der Herrscher der Hölle war, glauben Sie dann, dass das Opferprofil ebenfalls etwas mit der Hölle zu tun hat? Ich meine, glauben Sie, der Pfähler sieht seine Opfer als Sünder?«
»Ja, genau das glaube ich«, sagte Markham, »und es bringt uns zum letzten Auswahlkriterium des Pfählers: dem Akt der Sünde. Homosexualität ist in seinen Augen eine Sünde; und Randall Donovan könnte Korruption, Gier oder Unehrlichkeit für ihn verkörpern. Wenn wir das Opferprofil des Pfählers als Männer bezeichnen, die das Zeichen des Löwen tragen und die gesündigt haben, dann sind alle vier Opfer miteinander verbunden. Alle vier haben sich aus Sicht des Täters die Hölle verdient, und deshalb sind sie ihm, dem Prinzen der Hölle, eines Opfers würdig.«
Alan Gates ergriff als Nächster das Wort.
»Hat Ihr Berater von der Universität etwas davon gesagt, ob das Siegel ein tatsächliches Ritual in Kutha darstellt, im Gegensatz zu einem antiken babylonischen Mythos, der nicht überliefert ist.«
»Nein«, sagte Markham. »Über die antike Stadt und die Rituale, die dort stattfanden, ist kaum etwas bekannt. Man nimmt jedoch an, dass der Tempel von Kutha im Lauf der Zeit als eine greifbare Darstellung der babylonischen Unterwelt selbst angesehen wurde. Die Tempeltüren als Eingang zur Hölle, wenn man so will.«
»Wie ist das Siegel nach Italien gekommen?«, fragte Big Joe Connelly.
»Interpol
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