Opferschrei
wünschte, sie hätte ihre Gedanken besser unter Kontrolle.
Als sie Wohnung betrat, fühlte sie sich augenblicklich besser. Auf der Sofalehne stand gut sichtbar einer der Blaubeer-Muffins, die seit Beginn der Schwangerschaft zu ihrem Laster geworden waren. Dieser hier war besonders groß, an seiner breitesten Stelle hatte er bestimmt einen Durchmesser von fünfzehn Zentimetern.
Jubal musste ihn gekauft und ihn dann heimlich auf das Sofa gestellt haben, bevor sie zum Flughafen gefahren waren. Ja, sie war als Erste zur Tür hinaus, er kam mit seinem Gepäck hinterher und hatte die Tür abgeschlossen.
Oder hatte er als Erster den Korridor betreten?
Claire konnte sich nicht erinnern und gab den Versuch bald auf, die Reihenfolge zu rekonstruieren, in der sie die Wohnung verlassen hatten.
Es war auch nicht wichtig. Hier war der Muffin, sein Geschenk, ein Zeichen seiner Aufmerksamkeit.
Einen Zeichen seiner Liebe.
Der Direktflug nach Chicago hatte etwas weniger als drei Stunden gedauert. Mit jedem Schritt schnitt der Riemen der Tasche tiefer in Jubals Schulter ein, während er auf den Bereich hinter der Sicherheitsschleuse zuging, in dem die Leute auf ankommende Passagiere warteten. Der Flug war ziemlich anstrengend gewesen. Zwei Reihen vor ihm hatte ein Kleinkind während des Starts angefangen zu heulen und nur ab und zu kurz aufgehört, um Luft zu holen, bevor es in gleicher Lautstärke weitermachte. Es war unmöglich, sich auf As Thy Love Thyself zu konzentrieren, deshalb hatte Jubal das Manuskript zurück in die Tasche gesteckt und trotz des Lärms etwas gedöst. Er fühlte sich immer noch ein wenig daneben.
Er wurde wacher, als er eine zierliche, gut aussehende Frau mit verschränkten Armen lässig an einer Säule lehnen sah. Ihre Haltung wirkte sehr grazil – ein Bein leicht angewinkelt, sodass sie nur mit den Zehenspitzen das Gleichgewicht hielt, den Körper elegant zur Seite geneigt. Sie trug eine enge blaue Hose, darüber ein weißes T-Shirt, durch das man ihre kleinen, spitzen Brüste erahnen konnte. Ihr blondes Haar waren kurz geschnitten, was ihre knabenhaften Gesichtszüge noch mehr betonte.
Dalia Hart.
Sie entdeckte Jubal und fing an zu strahlen. Breit grinsend stieß sich von der Säule ab, an der sie gelehnt hatte, und rannte auf ihn zu.
Er ließ seine Tasche fallen und schloss sie fest in die Arme.
Sie schmiegte sich an ihn und rieb ihre Nase an seinem Hals. »Freust du dich, mich zu sehen?«
»Das wäre untertrieben.«
»Ich weiß«, sagte sie lächelnd. »Ich kann es fühlen.«
Er küsste sie so innig, wie er Stunden zuvor in New York Claire zum Abschied geküsst hatte.
52
Es hatte angefangen zu regnen. Besser gesagt hing der Regen in der Luft, ein schwerer Nebel, gegen den ein Regenschirm nichts ausrichten konnte, weil er zu den Ärmeln und Kragen hineinkroch. Zumindest ist es nicht mehr so heiß, dachte Quinn, während er aus dem Taxi direkt in eine Pfütze stieg, was ihm eine nasse rechte Socke einbrachte.
Eine Frau mit Gummistiefeln platschte durch das Wasser und übernahm seinen Platz im Taxi noch bevor er die Möglichkeit hatte, die Türe zu schließen. Er schaffte es gerade noch, beiseitezuspringen, um nicht nass gespritzt zu werden, als das Fahrzeug sich wieder in den Stopp-and-go-Verkehr auf der Park Avenue einreihte.
Während Pearl und Fedderman noch damit beschäftigt waren, Dekorateure zu befragen, die von Opfern des Night Prowlers angestellt worden waren, hatte Quinn ein Taxi genommen, um sich mit Harley Renz in der Praxis einer Psychiaterin zu treffen.
Renz hatte Quinn herbestellt, ihm aber keinen Grund dafür genannt. Während er die breite Straße überquerte und auf das imposante Gebäude aus der Vorkriegszeit zuging, dachte Quinn, dass es wirklich allerhöchste Zeit für Renz war, einen Psychiater aufzusuchen.
Der Boden der Lobby bestand aus goldgeädertem grauen Marmor, die Wände waren eichengetäfelt. Schlicht und elegant zugleich. Sie war menschenleer. Auf einer großen Gummimatte hielt Quinn an, um das Wasser von seinen Schuhen zu stampfen. Dabei bemerkte er in einer Ecke eine Überwachungskamera, die auf ihn gerichtet war. Neben dem Aufzug fand er eine Tafel, die ihm zeigte, wohin er musste.
Die Praxis, die sich im neunten Stock befand, lag ganz am Ende des Korridors. Die Tür stand einen Spaltbreit offen.
Er stieß sie auf und ging hinein. Ihm fiel auf, dass ein leicht chemischer Geruch in der Luft hing. Dann bemerkte er die verschmierten Flecken auf
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