Opferschrei
verschiedenen Objekten, die aussahen, als hätte jemand Fingerabdrücke genommen. Jetzt erkannte er auch den Geruch: undeutlichere Abdrücke waren mit der Cyanacrylat-Methode sichtbar gemacht worden.
Ein Tatort.
Quinn befand sich im Empfangsbereich, der gleichzeitig auch Wartezimmer war. Es gab einen Schreibtisch, auf dem ein Computer stand, und eine Reihe hellbrauner Aktenschränke. An den Wänden, die in einem warmen Erdton gestrichen waren, hingen beruhigend wirkende Drucke von Wasserlilien. Auf einem Beistelltisch, der neben einem langen beigen Sofa stand, lagen aktuelle Zeitschriften ausgebreitet – ein Forbes Magazine , ein New Yorker und ein Architectural Digest . In einer der Ecken befand sich ein kleiner Tisch, auf dem eine Kaffeemaschine stand, daneben ein Stapel Styroporbecher, Kaffeesahne und Zucker. Das Licht der Kaffeemaschine leuchtete nicht, aber die Kaffeekanne aus Glas war halb voll.
Zu seiner Linken sah Quinn einen Wandschrank, dessen Tür offen stand. Das einzige Kleidungsstück, das darin hing, war eine abgetragene blaue Männerjacke auf einem Drahtbügel. Auf den Boden hatte jemand mit Kreppband ein X geklebt – zweifelsohne, um die Stelle zu markieren, an der sich eine Leiche in dem engen Wandschrank befunden hatte. Das Kreppband war blutverschmiert und wellte sich dort, wo es über einen dunklen Fleck auf dem Teppichboden verlief. Quinn stellte fest, dass der Teppich ziemlich viel Blut aufgesaugt hatte, das hieß, bei geschlossener Tür hätte es niemand, der die Praxis betrat, bemerkt. Ein Mörder, der vorausschauend dachte?
Neben dem Schreibtisch befand sich eine weitere Tür, die nur angelehnt war. Quinn drückte sie mit dem Knöchel eines Fingers auf, um keine Fingerabdrücke zu zerstören oder eigene zu hinterlassen, auch wenn es nicht nötig war. Es war offensichtlich, dass die Spurensicherung ihre Arbeit bereits getan hatte und die Leiche abtransportiert worden war, aber Gewohnheiten, die sich in Gegenwart des Todes entwickelt hatten, waren schwerer tot zu kriegen als manche der Mordopfer selbst.
Harley Renz lag auf einer braunen Ledercouch, die Beine überkreuzt, die Finger hinter seinem Kopf verschränkt. Er sah herüber und lächelte, als Quinn den Raum betrat. »Willkommen im Beichtstuhl.«
»Wie schade, dass ich es verpasst habe. Ich wette, Sie hatten ganz schön was zu erzählen.«
»Ich kam selber zu spät.« Renz deutete träge auf den Boden neben dem Schreibtisch, wo der Umriss eines menschlichen Körpers grob mit Kreppband nachgeklebt war.
»War das die Dr. Rita Maxwell, die unten auf dem Schild steht?«, fragte Quinn, »Oder war sie die im Wandschrank?«
»Das hier war Dr. Maxwell.« Renz richtete sich auf, blieb aber weiter entspannt in einer Ecke der gemütlich wirkenden Couch sitzen. »Das Opfer draußen im Wandschrank war ihre Sprechstundenhilfe, eine Hannah Best. Diese Dr. Maxwell« – er deutete auf eine Wand, an der Fotos, gerahmte Diplome und Zertifikate hingen – »war eine ziemlich beeindruckende Dame. Und eine Schönheit dazu.«
»Ich habe von dem Fall in der Zeitung gelesen«, meinte Quinn. »Die Ärztin und ihre Assistentin wurden erstochen. Das Muster passte nicht zum Night Prowler, deshalb hab ich nicht weiter darüber nachgedacht.«
»Ich finde auch nicht, dass es passt«, sagte Renz, »aber ich dachte, dass Sie sich den Tatort vielleicht trotzdem ansehen wollen. Man kann nie wissen, was einem dabei hilft, einen Gedanken einzufangen, der irgendwo im Unterbewusstsein herumgeistert.«
»Das stimmt. Irgendwelche heiße Spuren?«
»Eine. Wie gesagt gibt es wahrscheinlich keine Verbindung, aber manchmal ist New York tatsächlich ein Dorf. Beide Frauen weisen nur wenige Stichwunden auf. Es wirkt eher so, als ob sie einfach nur schnell und ohne großen Aufwand aus dem Weg geräumt werden sollten, und nicht, als ob Leidenschaft oder sadistische Freude im Spiel waren. Anders als bei ihrem Kerl. Trotzdem handelt es sich hier um Frauen, die erstochen wurden. Die Medien haben es zur Kenntnis genommen. Und eine Analytikerin, die in ihrer Praxis auf der Park Avenue erstochen wird, wird viele Leute ziemlich aus dem Gleichgewicht bringen.«
»Sie meinen Leute, die ohnehin schon aus dem Gleichgewicht waren und ein Motiv und die Gelegenheit hatten, Dr. Maxwell umzubringen?«
»Unter anderem. Denken Sie nur an die vielen Geheimnisse, die an diesem ruhigen, friedlichen Ort ganz im Vertrauen preisgegeben wurden.« Renz grinste. »Aber wie wir wissen, gibt es so
Weitere Kostenlose Bücher