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Opferschrei

Opferschrei

Titel: Opferschrei Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Lutz
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sein musste, bevor der Vorhang sich hob, fiel , und die Scheinwerfer angingen, erloschen . Das alles war nötig für den Effekt, die Illusion – so oft übereinandergeschichtet, bis sie zur Realität wurde.
    Für eine lange Zeit war er einfach nur still in ihrem Schlafzimmer gestanden, ein finsterer Engel am Fußende des Betts, und hatte die schlafende Claire betrachtet. Betrachtet und ihrem Atem gelauscht. Dann war er in das kleinere Schlafzimmer gegangen, das Zimmer des Kindes, das hätte sein können, hatte sich ausgestreckt auf den Teppichboden gelegt und die Sterne betrachtet.
    Er hatte die Geschenke dagelassen. Ein Plüschbär für das Kind, das hätte sein können. Ironischerweise das knuddelige, lächelnde Tier, das mit seinen rasiermesserscharfen Krallen tötet. Und an seiner Pfote hatte er mit Tesafilm vom Schreibtisch die gelbe Rose für Claire festgeklebt.
    Bevor er gegangen war, hatte er noch einen Blick zu ihr hineingeworfen, um sicherzugehen, dass sie nicht aufgewacht war. Wie sicher und schön sie aussah, die Blässe ihrer Haut, dort, wo ihr Bein unter dem weißen Leintuch hervorschaute, als ob sie im Schlaf einen Halt in der wachen Welt suchen würde. Der langsame, rosarote Rhythmus ihres Atems war hypnotisierend …
    Der Aufzug stoppte seine Fahrt nach oben. Die Tür glitt auf. Der Night Prowler bewegte sich nicht. Er konnte noch nicht heimgehen, noch nicht zu seinem unerfüllten Verlangen, den grauen Schrecken zurückkehren, die einfach nicht schweigen wollten. Nicht zu dem Brummen, das ganz sicher wieder anfangen und immer lauter und lauter werden würde.
    Er konnte und würde es nicht tun.
    Wie so oft in letzter Zeit würde er durch die farblosen, frühmorgendlichen Straßen wandern, wo ihn nur wenige sehen konnten. Manchmal trug er eine Jogginghose und Laufschuhe, damit er nicht auffiel, wenn er immer schneller und weiter rannte, bis er alles Verlangen, alle Schrecken hinter sich gelassen hatte, zumindest für eine Weile. Manche der Schrecken hatten Gesichter, die nur flüchtig vor ihm auftauchten. Quinns breites, kraftvolles Gesicht. Quinn, der Gott des Gesetzes; Quinn, der Schachmeister, rot und schwarz .
    Quinn, den er hasste und fürchtete. Der eine kann nicht ohne den anderen existieren.
    Hass, Angst, Frustration, Verlangen . Eine Mixtur, die das Gehirn zum Kochen brachte.
    Quinn wusste das und baute auf einen Fehler, eine Eröffnung, ein Schachmatt, einen tödlichen Zug.
    Bald würde der Ehemann, die andere Hälfte des Ensembles, zu seiner Frau in die Wohnung zurückkehren, an seinen endgültigen Bestimmungsort. Bin wieder zu Hause, Schatz!
    Und bald schon, wenn das Ensemble wieder vereint war, würde der Night Prowler auf seine Bühne zurückkehren und die Rolle spielen, für die er geboren wurde. Vom Mutterleib an bestimmt. Es gab eine weltweite Geburtenfolge, nicht nur innerhalb von Familien.
    Schach hat nichts mit Schicksal zu tun.
    Heute Nacht trug er keine Turnschuhe, aber er würde trotzdem laufen.
    Mr Jenkins, Annas übergewichtiger Nachbar, hatte ihr angeboten, auf seinem Laufband im Keller des Hauses zu laufen. Es half ihm, Stress abzubauen, hatte er gesagt, vielleicht konnte es auch ihr helfen.
    Und das tat es. In der Gegend, in der Anna wohnte, gingen die Leute nicht um ihrer Gesundheit willen joggen. Um ihrer Gesundheit willen gingen sie nirgends allein hin und vermieden bestimmte Straßenecken. Um ihrer Gesundheit willen blieben sie an den meisten Abenden zu Hause, zogen die Vorhänge zu, ließen die Rollladen unten und kümmerten sich nur um ihre eigenen Angelegenheiten.
    Mr Jansen nannte sein Laufband »Mr Torture«. Natürlich im Spaß. Er war Diabetiker und sein Arzt hatte gesagt, er müsse abnehmen, also blieb ihm keine große Wahl. Das Laufband hatte ein digitales Display, das anzeigte, wie weit man gelaufen war und wie viele Kalorien man verbrannt hatte. Mithilfe eines Stirnbands, das mit dem Display verkabelt war, konnte man seinen Puls im Auge behalten. Annas Puls lag weit über hundert. Höher als er sollte, gemäß der Tabelle, die neben dem Display klebte.
    Sie war außer Atem. Ihre Beine schmerzten und sie hatte Seitenstechen, aber sie lief weiter. Sie fühlte sich merkwürdig losgelöst von ihrem Unbehagen, ihre Beine und Arme bewegten sich mechanisch. Doch mehr konnte körperliche Anstrengung nicht leisten, um Stress abzubauen. Es war die geistige Anspannung, die Gedanken entzündete und die Seele verbrannte und vor der man nie wirklich weglaufen konnte. Aber

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