Opferschrei
Fedderman ließ Jubal nur zögernd los, wie jemand, der etwas Wertvolles gefangen hatte, das kein vernünftiger Mensch freiwillig wieder loslassen würde.
»Sieht so aus, als hätten wir danach gesucht«, sagte Fedderman, als er mit einer Beweismitteltüte in der Hand zurückkehrte, in der ein Messer steckte. Er hielt sie hoch wie eine Trophäe. »Schmale Klinge, ungefähr fünfundzwanzig Zentimeter lang, scharfe Schneide und Spitze.«
»Es ist verdammt scharf«, meinte Campbell.
»Sollen wir dir einen Krankenwagen rufen?«, fragte Quinn, obwohl er die Antwort bereits kannte.
»Scheiß auf den Krankenwagen«, sagte Campbell.
Zäher alter Bursche. Wir brauchen mehr von deiner Sorte. Quinn warf dem jüngeren der beiden Streifenpolizisten, einem gelassen wirkenden Schwarzen, dessen Augen niemals still standen, einen Blick zu.
»Wir fahren ihn mit dem Streifenwagen ins Krankenhaus«, sagte der Cop. Er sah Campbell an und grinste. »Das muss genäht werden, Sarge, falls Sie keine Angst davor haben.«
Quinn erwartete, dass Campbell explodierte.
»Dieses kleine Arschloch ist sowas wie mein Schützling.«
Der Cop nickte. »Ich sorge dafür, dass man sich um den alten Sack kümmert.«
»Und ich sorge dafür, dass du für den Rest deines Lebens Portraitzeichner vom Times Square verjagen darfst«, grummelte Campbell.
Den ganzen Weg zum Aufzug warfen sich die beiden Drohungen zu.
Claire starrte ihren Ehemann an und versuchte, seine Verwandlung zu begreifen. Dieser Mann, der genau wie ihr Ehemann aussah, war einer der brutalsten und gefährlichsten Mörder in der Geschichte der Stadt. »Jubal? Kannst du mir das erklären? Kannst du mir bitte sagen, was hier vor sich geht?«
»Bist du verletzt?«
»Nein, mir geht es gut.«
»Ohne Anwalt sollte ich lieber nichts sagen, Claire. Das weißt du. Es tut mir leid. Ruf mir einfach einen Anwalt.«
»Wir haben überhaupt keinen Anwalt.«
Quinn wusste, dass Jubal ganz schön clever war, aber er sagte es nicht. »Wollen Sie, dass jemand hier bei Ihnen bleibt?«
»Nein. Wirklich, mir geht es gut.«
»Bringt ihn zum Aufzug und wartet da auf mich«, sagte Quinn zu Pearl und Fedderman.
Die beiden nahmen Jubal bei den Armen, und Fedderman packte ihn mit seiner freien Hand am Kragen. Dann führten sie ihn zu der Tür, durch die er zuvor so gerne hinaus wäre.
Sie hätten ihn ein wenig sanfter anfassen können.
68
Als Quinn mit Claire allein war, ging er zu ihr und legte ihr vorsichtig eine Hand auf die Schulter. Er hatte erwartet, dass sie zitterte, aber sie war ganz ruhig. Sie ist stark, auch wenn sie so zerbrechlich wirkt wie ein Vogel.
»Kann ich mit ihm gehen?«, fragte sie.
»Das können Sie, aber zu dieser Uhrzeit hat es wenig Sinn. Er wird registriert und kommt dann in die Arrestzelle. Morgen früh bekommen Sie einige Anwälte empfohlen, von denen Sie einen anrufen können. In der Zwischenzeit sorge ich dafür, dass er einen Pflichtverteidiger kriegt, um seine Rechte zu schützen. Das verspreche ich Ihnen.«
Er konnte sehen, wie ihr Gehirn arbeitete und sie herauszufinden versuchte, wem gegenüber sie sich mehr verpflichtet fühlen sollte. Soll ich dem festnehmenden Beamten glauben – der mein Leben gerettet hat? Oder soll ich zu meinem Ehemann halten – der versucht hat, mich umzubringen?
Es dauerte länger als es sollte, bis sie sich entschieden hatte.
»Danke«, sagte sie.
»Brauchen Sie einen Arzt? Ich meine, wegen ihrer Schwangerschaft.«
»Nein. Ich denke, ich würde es spüren, wenn irgendetwas nicht in Ordnung wäre.«
»Jemand wird Sie morgen früh anrufen. Wir schicken Ihnen einen Wagen.«
Sie nickte.
»Sind Sie sicher, dass es Ihnen gut geht?«
»So gut es einem eben gehen kann bei all den offenen Fragen.«
»Wir werden die Antworten für Sie finden. Bis dahin versuchen Sie einfach, sich so wenig Sorgen wie möglich zu machen.«
»Das ist leichter gesagt als getan.«
»Ja, ich weiß. Wie so oft.«
»Ich hätte es einfach nie für möglich gehalten!« Sie biss sich auf die Unterlippe und blickte zur Decke. Sie sah aber nicht aus, als würde sie gleich weinen.
Quinn warf einen Blick auf ihren Bauch, der langsam sichtbar wurde, und dachte daran, was sie nun alles alleine durchstehen musste. Gott möge ihr helfen.
»Es wird alles gut werden«, log er und tätschelte ihre Schulter. Er kam sich plötzlich sehr schäbig vor, weil er sie so abspeiste, auch wenn er nur versuchte, ihr zu helfen. »Oder zumindest besser.«
Ihm fiel nichts mehr ein,
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