Opferschrei
gewesen, der die Schüsse aus dem alten, doppelläufigen Gewehr abgefeuert hatte.
Aber Luther gab Verna die Schuld, genau wie seiner Mutter. Es hatten sowieso alle gewusst, aber es waren Verna und seine Mutter gewesen, die alles ans Licht gezerrt hatten, die es ausgesprochen hatten, sodass es real geworden war und etwas dagegen unternommen werden musste. Bis dahin war alles in bester Ordnung gewesen. Zumindest in Ordnung.
Und seit sein Vater angefangen hatte, in Vernas Zimmer zu gehen, hatte er aufgehört, in Luthers zu kommen.
Vernas Fehler.
Vernas und Mutters Fehler.
Dann hatte man Luther seinen Vater genommen und in eine Zelle in Jefferson City gesteckt, wo er vor sich hin vegetierte und darauf wartete, zu sterben, wenn die Rechtsmittel ausgeschöpft waren.
Luther war allein.
»Ihm ist Schreckliches widerfahren«, hatte Luthers Großtante Marjean aus Saint Louis nach den Morden gesagt, »aber ich bin siebenundachtzig und kann gerade so von meiner Rente leben. Ich kann dem armen Ding leider nicht helfen.«
Also wurde Luther in Pflege gegeben und landete bei Dara und Norbert Black. Außer Luther, der der Älteste war, lebten drei weitere Pflegekinder in der Familie. Dara Black, eine füllige Frau mit einem Apfelgesicht, die fast immer denselben fleckigen Schurz trug, wachte in dem alten Farmhaus über die Kinder, während Norbert in der Umgebung Zäune und Häuser strich.
Luther sah zu, wie sie im Haus umherwirbelte und dabei zu viel lächelte. Manchmal pfiff sie sogar bei ihrer Arbeit. Luther war sich bewusst, dass sie wusste und nicht wissen wollte, dass Norbert die Kinder missbrauchte. Niemand sprach je über das Thema. Luther fand, dass es das Beste war.
Der Staat zahlte den Blacks Unterhalt für die Kinder, und Norberts Malerarbeiten brachten noch etwas mehr Geld ein. Und natürlich musste Luther irgendwann sowieso ein Handwerk erlernen, was Norberts Entschuldigung dafür war, Luther als unbezahlten Lehrling einzustellen. Das bedeutete, dass Luther einen Großteil der schweren Arbeit erledigte, wie Zwanzig-Liter-Farbeimer herumhieven, Leitern und Gerüste schleppen oder alte Farbe mit Norberts unbrauchbarem Werkzeug von den Wänden kratzen. Was Luther wirklich lernte, war, in brütender Hitze zu schuften.
Am Tag, nachdem sein Vater hingerichtet worden war, lief Luther weg.
Und elf Monate und drei Tage später wurde er schlafend hinter einem Müllcontainer in Kansas City gefunden und zur Farm der Blacks zurückgebracht.
Das Leben, wie Luther es kannte, mit all seinem Elend und seinen grausamen, komplizierten Gesetzmäßigkeiten, fing wieder von vorne an.
12
New York, 2004.
Anna Caruso erinnerte sich.
Sie hatte keine andere Wahl, denn nun war er zurück, und in jeder Zeitung, im Fernsehen, in den Gesprächen, die sie in der U-Bahn, an der Bushaltestelle oder im Restaurant mithörte, wurde sie auf ihn gestoßen. Frank Quinn, ihr Vergewaltiger.
Zwar riefen sie den Leuten seine Vergangenheit ins Gedächtnis, die schlimmen Dinge, die er ihr vor gut vier Jahren angetan hatte. Doch Anna spürte schon jetzt, dass sich die Geschichte in eine andere Richtung bewegte. Man würde Quinn, der für das, was er getan hatte, nie vor Gericht gestanden hatte, vergeben. Immerhin war er nie angeklagt und schon gar nicht für schuldig befunden worden. Und war ein Vergewaltiger nicht unschuldig, bis das Gegenteil bewiesen war? Selbst ein Kinderschänder? So stand es in der Verfassung.
Das war es, was die Staatsanwälte ihr und ihrer Familie gesagt hatten. Sie konnten Quinn nicht festnehmen und vor Gericht stellen, weil es in den Augen der Staatsanwaltschaft einfach nicht genug Beweise für eine Festnahme gab. Ein großer Mann, eine Strumpfmaske, eine Narbe, die ein verängstigtes Kind in seinem abgedunkelten Kinderzimmer gestehen hatte, ein Knopf, der an einem von Quinns Hemden wie auch an tausend anderen fehlte. Beweise, aber keine stichhaltigen. Dann waren da noch die Kinderpornoseiten, die auf seinem Polizeicomputer aufgerufen worden waren. Sie deuteten zwar auf seine Schuld hin, bewiesen sie aber nicht hinreichend, sagte die Staatsanwaltschaft. Es war zu schade, dass der Vergewaltiger schlau genug gewesen war, ein Kondom zu benutzen, sonst hätten sie seine DNA .
Auf der anderen Seite hätte Anna auch schwanger werden können.
Was für schreckliche Alternativen waren das, wenn man sich immer die andere wünschte, egal, welche einem widerfuhr?
Mit ihren achtzehn Jahren war Anna nicht viel größer, als sie es
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