Opferschrei
übernommen. Seit sie sein Bild und seinen Namen in der Zeitung gesehen hatte, seit sie gehört hatte, wie Leute über ihn redeten, war sie wieder dreizehn, obwohl sie fast achtzehn war.
Sie wünschte, sie könnte ihn töten. Die Nonnen würden sagen, sie dürfe so etwas nicht denken, aber sie hatte die Schule abgeschlossen und konnte nun denken, was immer sie wollte.
Sie wünschte, sie könnte Quinn töten. Sie dachte an kaum etwas anderes mehr.
»Du willst doch nicht zu spät kommen, oder?«, warnte ihre Mutter sie wieder.
Das wollte Anna tatsächlich nicht. Sie musste sich auf die Zukunft konzentrieren, nicht auf die Vergangenheit. Heute war der erste Tag des Sommerkurses an der Juilliard School. Der erste Tag ihres Musikstipendiums.
Für das sie sich so gequält hatte. Ihre Therapie und ihre Flucht, die, wie sich gezeigt hatte, nicht wirklich funktionierte.
Sie stand auf und ging schwankend ins Badezimmer.
Unglückliche dreizehn. Unglückliche Anna.
Wenigstens hatte sie ihr Stipendium. Das war alles, was sie noch besaß, alles, was in ihr übriggeblieben war … ihre Musik. Dreizehn. Ein Kind.
Sie wusste, dass sie niemanden töten würde.
13
Quinn saß in der Sonne auf einer Bank im Central Park beim Eingang auf der Eighty-Sixth Street und blickte ihnen entgegen.
Fedderman sah immer noch gleich aus, er war nur ein wenig dicker geworden. Die Jacke seines zerknitterten Anzugs flatterte beim Gehen, die Krawatte hing schief, derselbe watschelnde Gang. Er hatte weniger Haare, durch die die Sommerbriese fahren konnte, und er wirkte außer Atem, als ob er sich anstrengen musste, mit den schnellen, gleichmäßigen Schritten der kleinen Frau neben ihm mitzuhalten.
Selbst aus dieser Entfernung schien Pearl Kasner vor Energie nur so zu sprühen. Ihre Bewegungen wirkten so ökonomisch, wohlüberlegt und entschieden, dass ihr resoluter Gang etwas Roboterhaftes an sich hatte. Sie war ein Spiel aus Licht und Dunkelheit. Eine Unmenge schwarzer Haare umrahmten das blasse Gesicht, aus dem ihm dunkle Augen entgegenblitzten. Ihre Lippen waren viel zu rot, und trotz des warmen Morgens trug sie einen schwarzen Blazer zu ihrem grauen Rock. Es war, als hätte man einem Kind nur schwarze und weiße Malstifte gegeben und ihm gesagt, es solle eine Frau malen. Und hier war das Ergebnis, so vollkommen und lebendig, dass sie fast unwirklich zu sein schien.
Quinn erhob sich von der Bank. Er fühlte die warmen Sonnenstrahlen auf seinen Schultern. »Hallo, Feds.«
Fedderman lächelte. »Quinn! Endlich wieder da, wo du hingehörst!«
Die beiden Männer schüttelten sich die Hände, dann umarmten sie sich. Fedderman klopfte Quinn fünf oder sechs Mal auf die Schulter, bevor er ihn losließ.
»Mach das Beste aus deiner Chance, mein Freund!«, sagte er.
»Darauf kannst du dich verlassen«, entgegnete Quinn.
»Ich bin auch da«, sagte Pearl.
Quinn sah sie an. »Ja, das sind Sie. Tut mir leid, dass wir Sie ignoriert haben. Fedderman und ich sind alte …«
»Ich weiß«, sagte Pearl, »Sie kennen sich schon eine Ewigkeit. Sie haben sich gegenseitig den Rücken freigehalten, das Brot miteinander gebrochen, mit denselben Kellnerinnen geflirtet, dieselben Schlachten geschlagen. Fedderman hat mich ins Bild gesetzt.«
Fedderman grinste Quinn zu. »Das ist Pearl. Sie ist eine Kämpferin.«
Quinn trat einen Schritt zurück und musterte Pearl. Trotz ihres Sarkasmus lächelte sie ihn mit großen, blendend weißen Zähnen an. »Das habe ich schon gehört, Pearl, dass sie eine Kämpferin sind. Und ein talentierter Detective dazu.«
»Ich hab auch schon viel von Ihnen gehört, Lieutenant.«
»Nenne Sie mich einfach Quinn. Offiziell erledige ich nur einen Aushilfsjob für das NYPD .« Quinn knöpfte sein Sakko zu, um das Ketchup zu verbergen, das er sich bereits auf seine neue Krawatte gekleckert hatte. »Also hat jeder schon von jedem gehört, abgesehen von den paar Dingen, die ich Ihnen noch über Fedderman erzählen könnte. Und wir alle wissen, warum wir uns hier treffen.«
»Weil Ihre Wohnung ein Dreckloch ist«, sagte Pearl.
Fedderman schüttelte den Kopf. »Pearl, verdammt!«
»Meine ist auch ein Dreckloch«, entgegnete Pearl. »Winzig, so heiß wie in einem Backofen, und sie braucht dringend einen neuen Anstrich.«
»Kakerlaken?«
»Die würden es dort nicht aushalten.«
Quinn grinste sie an. Sie lächelte immer noch und schaute ihn dabei so herausfordernd an, dass sie dafür vor vierhundert Jahren bestimmt als Hexe verbrannt
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